Im Hohen Haus gibt es ein grosSes theateR

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Im Historischen Sitzungssaal des Parlaments ist die Musiktheater-Revue "Letzte Tage“, in Anspielung auf Kraus’ "Letzte Tage der Menschheit“, von Christoph Marthaler zu sehen.

Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler montiert im Historischen Sitzungssaal des Wiener Parlaments politische Phrasen zwischen Antisemitismus, Antiziganismus und aktuelle europäische Diskurse.

"Letzte Tage. Ein Vorabend“ nennt Marthaler seine Revue frei nach Karl Kraus’ Drama "Die letzten Tage der Menschheit“. Er siedelt den Beginn seiner Inszenierung unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs an und blickt schlaglichtartig auf die politische Rhetorik der letzten 100 Jahre. Dabei verbindet Marthaler alte Stereotypen mit gegenwärtigen, montiert FPÖ-Wahlsprüche mit Reden des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und vergibt UNESCO-Schutz für Europas dunkle Kapitel.

In diesen Szenen zeigt Marthaler Stärke, etwa wenn er die biologistisch-rassistische Diktion der Grazer FPÖ-Politikerin Susanne Winter wörtlich zitiert, die diese als "persönliche Empfindung“ deklariert, in der sie sich keiner "political correctness unterwerfen“ wolle.

Fragmente von Viktor Ullmann

Auf ihre Worte folgen Viktor Orbáns nationalistische Reden. Die räumliche Wirklichkeit wird zur Metapher seiner Politik. Er steckt in einem Bau-Gerüst fest und kommt aus der Enge seines Denkens buchstäblich nicht mehr heraus. Marthalers Körpertheater zwischen Erstarrung und wilden Verrenkungen wird mit der Musik jüdischer Komponisten aus Tschechien, Polen und Wien gegengeschnitten, die entweder im Nationalsozialismus ermordet wurden oder ins Exil gingen.

Ein Leitmotiv bildet das Fragment des österreichisch-schlesischen Komponisten Viktor Ullmann (1898-1944), der 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde, wo er das dortige Musikleben maßgeblich mitgestaltete. 1944 brachte man ihn nach Auschwitz, dort starb er in der Gaskammer. Ein Teil seiner Kompositionen konnte gerettet und überliefert werden, Marthaler und Uli Fussenegger (vom Klangforum Wien) spielen u. a. eines seiner Fragmente aus dem Jahr 1943, das als die letzte von Ullmann aufgeschriebene Musik gilt.

Über den Staub der Bänke wischt ein Putztrupp, Frauen aus Tschechien, der Slowakei oder Ungarn, die nicht mehr an Politik interessiert sind, sondern an der Entwicklung ihrer Krampfadern. Die eintretenden Politiker sind nichts als lächerliche Clowns, sie tragen rote Nasen und Karnevalshüte. Das Parlament als Ort der Weisheit und Demokratie ist aus ihrer Sicht der Treppenwitz der Geschichte. Pallas Athene trägt eine rote Nase, denn obwohl die Mythologie der Göttin Weisheit zuspricht, verhält es sich mit den realen Frauen nicht ganz so gleichberechtigt. Schließlich dürfen Frauen in Österreich erst seit 1919 wählen und stellen bis heute eine Minderheit im österreichischen Parlament dar (von 183 Abgeordneten zum Parlament sind nur 53 weiblich).

Kein Trost in der Kunst

Marthaler-Dramaturgin Stefanie Carp hat gegenwärtige Polit-Diskurse mit historischen Reden kombiniert und einen beklemmenden Abriss der Entwicklung des letzten Jahrhunderts geliefert. Da dürfen auch nicht Redeausschnitte des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger fehlen, dessen antisemitisches Gedankengut als Nährboden für Rassismus und eine "Wir-sind-wir“-Mentalität dient.

In diese Rhetorik gehört auch der Monolog einer gutbürgerlichen Parlamentarierin (Silvia Fenz), die deutlich macht, dass sie wirklich nichts gegen Fremde hat, solange sie nicht persönlich konfrontiert ist. Und auch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust soll doch "endlich ein Ende“ haben. Nicht zuletzt stört das Stochern "dieser nachgeborenen Gutmenschen“ auch in der Vergangenheit der Philharmoniker die Ruhe.

Aus den Fugen des zerfallenden Raums klingen alte Klischees und Vorurteile in neuem Vokabular. Die Rhetorik der Doppelzüngigkeit zieht sich durch alle Phasen des Jahrhunderts. Im letzten Drittel zerfranst Marthalers Inszenierung, sein Prinzip der Entschleunigung präsentiert sich als allzu langatmig und funktioniert nur mehr bedingt als kritisches Mittel.

Das Ende beschließt Marthaler höchst beklemmend mit Musik aus dem 19. Jahrhundert: Wenn das Ensemble mit dem Choral "Wer bis ans Ende beharrt“ aus Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium "Elias“ über die Galerie eng gedrängt davonzieht, zeigt er die Komponisten des Abends auf ihrem Weg in die Gaskammern. Auch in der Kunst findet sich am Ende kein Trost für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Letzte Tage

Parlament, Historischer Sitzungssaal

24., 25., 27., 28. Mai

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