IM ROLLSTUHL nach La Paz
Boliviens Präsident Evo Morales hat die Hoffnungen vieler ehemaliger Anhänger enttäuscht. Die Proteste werden lauter.
Boliviens Präsident Evo Morales hat die Hoffnungen vieler ehemaliger Anhänger enttäuscht. Die Proteste werden lauter.
Es ist ein bunter Haufen, der da durch die Hauptstraßen von La Paz zieht. Hochlandindios im Rollstuhl, Männer und Frauen, die einbeinig an der Krücke über den Asphalt humpeln, geistig behinderte Kinder, die von einem Elternteil geschoben werden. Seit Wochen demonstrieren Boliviens Behindertenverbände fast jeden Tag. Marcelo Vásquez aus der Hauptstadt Sucre, der seinen Rollstuhl mit den Händen vorantreibt, führt den Marsch an. Um den Hals hat er die rot-gelb-grüne Fahne Boliviens gebunden, auf dem Kopf trägt er einen breitkrempigen Lederhut. "Wir lassen uns nicht vertreiben und nicht einschüchtern", versichert er. Auch wenn der Protest lebensgefährlich ist. Drei Kameraden seien seit Beginn der Demonstrationen bereits gestorben. An der Kälte oder nicht behandelten Krankheiten. Zwei wurden von einer betrunkenen Autofahrerin in der Stadt Cochabamba - offenbar absichtlich - niedergemäht.
Die Plaza Murillo, der prächtige Hauptplatz der bolivianischen Metropole La Paz, ist an allen Zugängen abgeriegelt. Dutzende martialisch adjustierte Polizisten, die ihre Helme und Schilde parat haben, wachen darüber, dass keine Gruppen zum Amtssitz des Präsidenten vordringen können. Nicht einmal gegen Proteste der weit mobileren Bergarbeiter wurde der Platz derart hermetisch verbarrikadiert. Die Indaburo-Straße und Teile der Querstraße Calle Junín, nur zwei Häuserblocks weiter, sind mit Iglu-Zelten gesäumt, wie man sie auf jedem Campingplatz sehen kann. Vor einem sitzt Feliza Alí in ihrem Rollstuhl. Sie ist Vorsitzende der Behindertenorganisation COBOPDI.
"... wie ein Kind behandelt"
Seit 25. April campieren um die 200 Behinderte an diesem Straßeneck. Die Hoffnung, dass Präsident Evo Morales sie empfangen würde, hat sich schnell zerschlagen. "Wir wurden von einem Polizeikordon und Pfefferspray empfangen", erzählt Feliza. Die Polizisten hätten den Helfern, die die Rollstühle schieben, den Pfefferspray direkt ins Gesicht gesprüht. Die hätten die Rollstühle losgelassen. "Einige von uns sind dann die steilen Straßen hinuntergerollt und gegen die Schutzgitter geprallt." Es habe mehrere Verletzte gegeben.
Feliza Alí teilt das Schicksal Tausender Männer und Frauen in Bolivien. Die gelernte Sozialarbeiterin war vor 19 Jahren mit dem Bus in die Stadt Potosí unterwegs, als der Fahrer auf einer kurvigen Strecke offenbar einschlief. Der Bus stürzte 70 Meter ab, sechs Passagiere überlebten den Unfall nicht. Feliza brach sich mehrere Rückenwirbel. Seither sitzt sie im Rollstuhl. "Das Schlimmste ist, dass dich plötzlich alle wie ein Kind behandeln", sagt die 47-jährige Frau, die den Job im Staatsdienst aufgeben musste. Man wollte ihr nur mehr Schreibarbeiten überantworten. "Ich bin keine Schreibkraft. Ich bin akademisch ausgebildet", protestiert die Frau, die ihr Schicksal nicht so einfach hinnehmen wollte. Sie gründete eine Behindertenorganisation, die sich für menschenwürdige Lebensbedingungen einsetzt.
Behindertenorganisationen im ganzen Land protestieren seit Jahresbeginn. Sie wollten eine monatliche Rente von 500 Bolivianos durchsetzen. Das sind etwa 65 Euro. Zermürbt von der Abwehrhaltung der Regierung würden sie sich inzwischen mit der Hälfte bescheiden. Bisher bekommen Personen, denen eine Behinderung von mehr als 50 Prozent attestiert wird, jährlich einen Bonus von 1000 Bolivianos, Blinde bekommen 5000. Als die Regierung sich stur stellte, begannen 350 Behinderte aus allen Landesteilen am 21. März von der Stadt Cochabamba einen Marsch ins 384 Straßenkilometer entfernte und 3600 Meter hoch gelegene La Paz. Unterwegs hätten sie viel Solidarität erfahren, so Feliza Alí. Leute hätten ihnen Obst und Wasser gereicht. Sie durften in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen übernachten. Von der Präsidentschaft erging darauf eine Instruktion an die indianischen Organisationen, den Behinderten Kost und Quartier zu verweigern.
Große Pläne, wenig umgesetzt
Als Evo Morales 2006 die Präsidentschaft antrat, hegten alle Minderheiten im Land große Hoffnungen. Auch die Behinderten. Gleich im ersten Amtsjahr wurde denn auch ein Nationaler Plan für Gleichheit und Chancengleichheit (PNIEO) verabschiedet. 2008 widmete die Regierung 40 Millionen Bolivianos für die Umsetzung von zehn großen Programmen. Doch davon wurde kaum etwas umgesetzt. Also organisierten die Behindertenverbände 2012 eine große Karawane. Schließlich wurden sieben Millionen Bolivianos für 22 Produktionsprojekte wie Schusterwerkstätten ausgegeben. 600 Personen profitierten davon. Erst 2015 wurden 20 Millionen Bolivianos für 20.000 Behinderte ausgeschüttet. Damals waren 22.112 Personen als schwer behindert registriert.
Die Regierung weist die Forderung nach einer monatlichen Rente von 500 Bolivianos mit dem Argument zurück, ihre Politik setze auf Inklusion, nicht auf Mildtätigkeit. Kinder sollen nach einem Gesetz aus 2010 -soweit möglich - in Regelklassen unterrichtet werden. Lehrer müssen Gebärdensprache lernen. Staatliche Stellen und Unternehmen müssen einen kleinen Prozentsatz Behinderter beschäftigen. Doch das Gesetz ist zahnlos und wird kaum befolgt. Nur drei Prozent der behinderten Kinder besuchen tatsächlich reguläre Schulen, weitere vier Prozent werden in Sonderschulen betreut. Die Arbeitslosenrate von behinderten Menschen wird auf 90 Prozent geschätzt.Der Staat hat also eine Bringschuld.
"Diese Rente hat mit Mildtätigkeit nichts zu tun", wehrt sich Feliza Alí, "sie schließt gerade einmal die Kluft zur nicht behinderten Bevölkerung." Denn Behinderte müssen für Transport und Medikamente mehr ausgeben als andere. Marcelo Vásquez kann wie die meisten Querschnittgelähmten seine Schließmuskeln nicht kontrollieren und ist auf Windeln angewiesen. Seine Darstellung der derzeitigen staatlichen Leistungen fällt drastisch aus: "Die 1000 Bolivianos, die wir jährlich bekommen, reichen gerade für eine Windel täglich."