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Gerhard Roth: Unterwegs

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Eine Erinnerung an die Kindheit: Gerhard Roth über eine Fahrt in einem dunklen Eisenbahnwaggon.

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Eine Erinnerung an die Kindheit: Gerhard Roth über eine Fahrt in einem dunklen Eisenbahnwaggon.

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Mit noch nicht ganz drei Jahren saß ich mit meiner Mutter in einem dunklen Eisenbahnwaggon. Da waren auch meine Brüder. Wir saßen auf Holzbänken, die zu hoch waren, einmal auf dem Knie eines fremden Soldaten. Gab es Fensterscheiben? Die Landschaft flog vorbei, auch fremd. Nein, Fensterscheiben gab es nicht, es ist selbstverständlich, dass es keine Fensterscheiben gibt, ich fahre zum ersten Mal in einem dunklen Eisenbahnwaggon. Da müssen alle Mäntel tragen. Als der Zug hält, zischt und dampft es. Ein Kessel sei getroffen, sagt jemand. Im übrigen sind alle schreiend aufgesprungen, laufen Menschen in den Gängen. Auch die Stufen, die aus dem Waggon führen, sind zu hoch. Wir laufen über ein weites Stoppelfeld, dahinter ist das Gebirge, von dort kommt ein Flugzeug, fliegt über uns hinweg und kommt wieder von der anderen Seite, dann werfen sich die Menschen und auch wir auf die Erde. Einmal sah ich den Piloten, er trug eine dunkle Motorbrille, eine Lederhaube, ja, er sah aus wie eine Maschine. Da fürchtete ich mich. Ein Mann blieb liegen, Blut lief aus seinem Mund; er schlief.

Wir liefen einen Graben hinunter, sprangen über einen Bach, das Flugzeug flog über uns hinweg. Neben einem Bauernhaus ein Misthaufen, hinter dem wir versteckt wurden. Wenn das Flugzeug von der anderen Seite kam, liefen auch wir auf die andere Seite. Dann flog es zurück in die Unwirklichkeit. Ein halbes Jahr später warf mir ein amerikanischer Soldat eine Orange aus einem Panzer zu und ich biß in sie hinein, weil ich glaubte, es sei ein Apfel.

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Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

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