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Das Geheimtagebuch

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In das Tagebuch, das Leopold damals führte, hat er nicht nur die Auseinandersetzungen und Gespräche innerhalb der kaiserlichen Familie eingetragen, sondern auch alle Begegnungen und Unterredungen mit den von der Kaiserin zu ihm geschickten — und den vielen dann aus eigenem Antrieb zu ihm gekommenen — hohen Beamten, aber auch mit Angehörigen des hohen Klerus und Militärs, Gelehrten, Kaufleuten, Projektemachern und anderen.

Die schonungslose, oft geradezu gehässige Kritik an den österreichischen Verhältnissen und Persönlichkeiten, die in allen diesen Schriftstücken von Leopolds Hand mit ganz offenkundiger Lust an der Schwarzmalerei zum Ausdruck kommt, war gewiß auch durch die innere Abwehrhaltung gegenüber Mutter und Bruder, durch die Verärgerung über den erzwungenen Aufenthalt in Wien und die Sehnsucht nach den überschaubaren und vergleichsweise wohlgeordneten toskanischen Verhältnissen bestimmt. Gerade für einen befehlsgewohnten Herrscher, dessen Wille in seinem Lande Gesetz war, bedeutete es eine gewaltige Umstellung, nun nicht mehr bloß brieflich aus der Ferne, sondern im täglichen Umgang sich zwei so selbstherrlichen Persönlichkeiten wie Maria Theresia und Joseph unterordnen zu müssen, da bei durch den Gegensatz zwischen beiden zu äußerster Vorsicht in allen Äußerungen und Stellungnahmen gezwungen zu sein und über echte oder vermeintliche Mißstände im besten Falle unverbindliche, begreiflicherweise nicht immer gerne entgegengenommene Vorstellungen erheben zu dürfen.

Kurzes, scharfes Urteil

Wenn man sich diese Umstände vor Augen hält, wird man die erschreckende Härte und Kälte der Urteile Leopolds über Personen und Zustände vielleicht eher verstehen und wohl auch erst den Quellenwert dieser Zeugnisse richtig erfassen; dann aber, nach den nötigen Abstrichen, zeigt es sich, daß Leopold doch ein außerordentlich scharfsichtiger Beobachter und, obwohl erst im 32. Lebensjahr stehend, auch ein hervorragender Menschenkenner war. Gewiß mag er in einzelnen seiner Urteile übertrieben haben, durch persönliche Voreingenommenheit bestimmt worden sein. Einige seiner kurzen, scharfen und prägnanten Urteile über österreichische Staatsmänner etwa sind dann von der Geschichte nicht bestätigt worden. Im allgemeinen aber ist es doch erstaunlich, wie bestimmt und zuverlässig seine Urteile sind und wie sehr sie dem historischen Bild der beurteilten Persönlichkeiten entsprechen.

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