Schnell noch ein paar "Verräter" umgelegt

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"Stern"-Reporter Ulrich Völklein recherchierte ein typisches Nazi-"Endphasenverbrechen"

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"Stern"-Reporter Ulrich Völklein recherchierte ein typisches Nazi-"Endphasenverbrechen"

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Am 2. Mai 1945 wurde der Marienwallfahrtsort Altötting in Bayern kampflos den Amerikanern übergeben. Vier Tage vorher starben sieben Altöttinger Bürger, weil fanatische SS-Männer noch immer an den Endsieg glaubten, und "die Ordnung im Ort wiederherstellen" wollten. Der "Stern"-Journalist Ulrich Völklein hat mehr als fünfzig Jahre später die Details der brutalen Morde recherchiert, die seinen eigenen Großvater, Oberstleutnant Karl Kaehne, schwer belasten und darüber hinaus exemplarisch zeigen, "wie dieser Krieg nicht nur millionenfach Leben, sondern auch Moral vernichtet hat".

Altötting in den letzten Kriegstagen: Landesrat Kehrer zerbricht sich mit Freunden den Kopf, wie er den Wallfahrtsort kampflos den herannahenden Amerikanern übergeben kann, um die Gnadenkapelle der Schwarzen Madonna aus dem 13. Jahrhundert und das berühmte Chorherrenstift vor der Bombardierung zu retten. Obwohl Altötting als Lazarettstadt eingerichtet wurde und in diesen Tagen 12.000 Flüchtlinge und 5.000 Verwundete dort lagern, ist die Angst in der Bevölkerung groß. Ist doch nur einige Kilometer entfernt in Mühldorf der NSDAP-Kreisleiter Fritz Schwagerl mit seinen Männern stationiert, "das fleischgewordene Klischee eines Nazi-Bonzen schlechthin", der keinen Zweifel daran läßt, daß der Endsieg knapp bevorsteht, und daß daher auch Altötting bis zum letzten Blutstropfen verteidigt werden muß. Von den "katholischen Flaumännern", die nur ihre Kulturgüter unbeschadet durch den Krieg bringen wollen, hat er die Schnauze voll.

Auch die in Altötting stationierte "Kampfgruppe Trummler" der SS verbreitet Angst und Schrecken, indem sie die Lazarette nach Wehrfähigen durchkämmt und desertierende Jugendliche zur Abschreckung aufhängt.

In dieser durch versprengte Wehrmachteinheiten auf der Flucht über die Altöttinger Innbrücke noch zusätzlich aufgeheizten Atmosphäre wendet sich Landesrat Kehrer an einen Münchner Freund, Hauptmann Ruprecht Gerngroß, der mit einigen Vertrauten die Kapitulation Münchens vorbereitet. Der Rundfunksender sowie die militärischen und politischen Kommandostellen sollen besetzt und nach einem Aufruf im Rundfunk in der ganzen Region die Nazibonzen verhaftet werden. Die "Fasanjagd" (der Volksmund nennt die Parteifunktionäre wegen ihrer Uniformen Goldfasane) schlägt nach wenigen Stunden fehl.

Knapp bevor die auch in Altötting kurzfristig inhaftierten Naziführer aus dem Ortsgefängnis entlassen werden, formiert sich ein Rächertrupp aus dem zur Genesung im Lazarett befindlichen Oberstleutnant Kaehne und übereifrigen Offizieren und SS-Angehörigen, die Landesrat Kehrer ermorden (oder zum Selbstmord zwingen, was aber nach Völkleins Recherchen unwahrscheinlich ist) und fünf weitere, willkürlich zusammengetriebene "Mitverschwörer" ohne Gerichtsverfahren in einer Blitzaktion hinrichten. Zwei Tage später wird noch ein Arbeiter ermordet, der sich unter Hinweis auf die Schwerverwundeten im Lazarett weigert, die Stromversorgung zu unterbrechen.

Nicht minder erschreckend als die von Zeitzeugen und durch Gerichtsprotokolle ausführlich dokumentierten Morde an Mitbürgern, die den Mördern seit Jahren persönlich bekannten waren, sind die Aussagen der Angeklagten, die trotz eindeutiger Beweislage lediglich als "Mitläufer" eingestuft und mit geringen Geldstrafen bedacht wurden. Oberstleutnant Kaehne, der später angibt, ohne Spur eines schlechten Gewissens das Kriegsende abgewartet zu haben und selbstverständlich mit der Racheorgie "nicht das mindeste zu tun" hatte, wird "mangels Beweisen" freigesprochen, obwohl ihn sämtliche Augenzeugen schwer belasten. Dem als "Jugendvergifter stadtbekannten" Hetzredner und für die Bürgermorde mitverantwortlichen Neuöttinger Nazi-Schulleiter Lorenz wird positiv angerechnet, daß er sich im Schuldienst "jedweder Agitation gegen den Religionsunterricht" enthalten habe, der NS-Ortgruppenleiter Stubenhofer, der dieses Amt nur aus Angst vor Repressalien übernommen haben will, hält sich für "minderbelastet" und muß lediglich die Verfahrenskosten tragen. Auch der höchste Nazi Altöttings passiert weißgewaschen die Spruchkammer, weitere Mittäter bleiben unbehelligt oder finden ebenfalls milde Richter.

Nach der Ablösung des Vorsitzenden einer für die Entnazifizierung zuständigen bayrischen Spruchkammer wegen "whitewashing" durch die US-Militärregierung im Mai 1947 meinte ein Vertreter der US-Militärregierung: "Wenn die lokale Spruchkammer das Entnazifizierungsgesetz weiter so ausführt wie in den letzten drei Monaten, werden am Ende nur Adolf Hitler und seine höchsten Minister schuldig sein."

Ulrich Völklein hat mit seiner Dokumentation den Wahnsinn der letzten Kriegstage und die Grausamkeit übereifriger Militärs aufgezeigt, die angesichts der Niederlage skrupellos und willkürlich mordeten. Ihre Verbrechen trüben die bürgerlich-fromme Idylle im Marienwallfahrtsort Altötting bis heute.

Die "Bürgermorde" von Altötting waren nur eines jener "Endphasenverbrechen", die auch in Österreich zu hunderten begangen und in der frühen Nachkriegszeit von den österreichischen Gerichten in zahlreichen Mordprozessen im allgemeinen viel härter als von den deutschen Spruchkammern und Gerichten bewertet wurden. Später kam es zum Umschlag: Die Deutschen lernten, die Österreicher vergaßen ihre Lektion.

Ein Tag im April. Die "Bürgermorde" von Altötting Von Ulrich Völklein, Steidl Verlag, Göttingen 1997, 160 Seiten, Pb., öS 123,

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