Seismograf dieser Gesellschaft

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40 Jahre geht der deutschsprachige Gemeinschaftskrimi "Tatort" nun schon on air. Letzten Sonntag begann Ulrich Tukur seine Karriere als Kommissar: Bei dieser Serie gibt sich seit jeher die Crème der Schauspielkunst die Klinke in die Hand.

Eine gottverlassene Gegend im herbstlichen Nebel. Ein Ruderboot mit einer Leiche, in einem halbleeren Stausee treibend. Eine Spur, die weit in die Vergangenheit hinein führt. Ein Ermittler, der aufgrund eines Gehirntumors von Wahrnehmungsstörungen und Halluzinationen geplagt wird. Mit einer melancholischen, den Odem des Literarischen verströmenden Folge beging die Krimiserie "Tatort" letzten Sonntag ihren 40. Geburtstag. Ulrich Tukur gab in dieser 781. Ausgabe seinen Einstand als Kommissar Felix Murot und auch sonst war "Wie einst Lilly" höchstkarätig besetzt. Dass sich beim "Tatort" stets die Crème de la Crème der deutschsprachigen Schauspielkunst die Klinke in die Hand gab, ist eines der Erfolgsrezepte der Serie.

"Tatort" war die Antwort der ARD auf den "Kommissar", mit dem das ZDF ab 1969 Riesenerfolge feierte. Statt auf einen einzigen Ermittler setzte die föderal strukturierte Sendeanstalt auf regionale Vielfalt. Jeder einzelne zur ARD gehörende Landessender lieferte seinen eigenen Ermittler. Ein Kommissar pro Sender, größtmöglicher Regionalitäts- und Realitätsbezug - so lautete das Konzept. Und so flimmerte am 29. November 1970 die allererste Tatort-Folge "Taxi nach Leipzig" über die Bildschirme. Beinahe von Anfang an gab es auch "Tatorte" aus Österreich. Von 1971 bis 1987 ermittelte der legendäre Fritz Eckhardt als Inspektor Marek. Seit 1999 löst Harald Krassnitzer alias Chefinspektor Moritz Elsner Fälle in Wien und in den Bundesländern. Hierzulande sind die "Tatort"-Folgen aus heimischer Produktion die meistgesehenen, in Deutschland hingegen rangiert Moritz Eisner an vorletzter Stelle der Beliebtheitsskala.

Panorama der Befindlichkeiten

"Tatort" war stets mehr als bloß eine vielgesehene Krimiserie. "Ohne es zu wissen, haben wir mit dem, Tatort' ein Panorama deutscher Befindlichkeiten kreiert", sagt "Tatort"-Erfinder Gunther Witte. Die Serie wurde zu einem Spiegel der Gesellschaft, zu einem Seismografen für gesellschaftliche und politische Entwicklungen. In den 70er-Jahren reflektierte die Serie Themen wie die Emanzipation der Frau, sexuelle Revolution und Aufbegehren gegen die Kriegsgeneration, heute Themen wie Migration, religiöser Fanatismus oder Auflösung der klassischen Familienstrukturen. Wer wissen möchte, was die Deutschen 1977, 1990 oder 2002 bewegte und wie sie damals tickten, braucht sich nur die "Tatort"-Folgen jener Jahre anzusehen. Auf die österreichischen Folgen allerdings trifft dies nur höchst eingeschränkt zu, eine Ausnahme ist die Folge "Baum der Erlösung" (2009), in der ein realer Konflikt um ein Minarett in Tirol verarbeitet wurde. Die Funktion als Gedächtnis der Gesellschaft erfüllen in Österreich andere Serien: "Ein echter Wiener geht nicht unter" und der "Kaisermühlen-Blues".

Von Haferkamp bis Lena Odenthal

Auch die Kommissare selbst und ihre Alltagsprobleme, denen oft mehr Raum eingeräumt wird als der Aufklärung des Verbrechens, sind typische Vertreter ihrer Zeit. Der 70er-Jahre-Kriminalkommissar Haferkamp (Hansjörg Felmy) etwa litt unter dem damals neuen Problem, ein geschiedener Mann zu sein. Mit dem rauen Horst Schimanski (Götz George) hielten 1981 Unkonventionalität und Unterschichtenmanieren im Kriminalkommissariat Duisburg Einzug. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe weiblicher Kommissare. Auch das reflektiert gesellschaftliche Verhältnisse. Mit Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) gibt es eine - nicht offen - lesbische Kommissarin, Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) erlebt Höhen und Tiefen einer alleinerziehenden Mutter.

Was erzählt die neue Figur des Felix Murot über das Jahr 2010? Ein Mann am Rande es Unterganges, zunehmend den Bezug zur Realität verlierend, von einer übermächtigen Vergangenheit niedergedrückt, abgeklärt, aber keinen Nutzen aus seinen Erkenntnissen ziehen könnend, den Frauen so weit entfremdet, dass sie nur noch als Geister durch seine Erinnerung spuken. Klingt nicht gerade erbaulich. Künftige Generationen werden dieses Bild richtig zu interpretieren wissen.

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