Mehr als ein Jahrzehnt lang war ich Rainer-Maria-Rilke-süchtig. Seither sind zwanzig Jahre vergangen, aber jeden April habe ich die Zeilen im Kopf: "Wieder duftet der Wald. Es heben die schwebenden Lerchen mit sich den Himmel empor, der unseren Schultern schwer war. Zwar sah man noch durch die Äste den Tag, wie er leer war …“ ("Aus einem April“, 6. 4. 1900). Von Mai bis März will ich die Zeilen nicht rezitieren. Aber im April unbedingt, das ganze Gedicht, und wenn ich in einem Jahr darauf vergessen würde - es würde mich beunruhigen. Ein Bogen der Kontinuität spannt sich damit übers Jahr, ein Gefühl des Aufgehobenseins im Verlauf des eigenen Lebens.
Doch eigentlich wollte ich übers Aufhören schreiben. In den vergangenen Wochen haben einige Personen des öffentlichen Lebens mit etwas aufgehört. Der Vizekanzler, Finanzminister und Parteivorsitzende hat aufgehört, Politiker zu sein. Wolfgang Ruttenstorfer hat aufgehört, Generaldirektor zu sein. Peter Noever hat aufgehört, Museumsdirektor zu sein. Es gibt aber auch die weniger öffentlichen Entscheidungen in meinem Umfeld: Der Pächter unseres Museumsrestaurants hört auf, Wirt zu sein. Die Gründe für das Ende sind verschieden. Freiwillig oder unfreiwillig, das macht den Unterschied. Der Wirt will nicht weiter versäumen, wie sein kleiner Sohn heranwächst. Der Politiker will seine Gesundheit nicht länger aufs Spiel setzen. Der Wirtschaftsboss hat das Pensionsalter erreicht. Und der Museumsdirektor musste die Konsequenz aus eingestanden unlauterem Verhalten ziehen.
Aufhören hat ein schlechtes Image, ob es freiwillig oder unfreiwillig geschieht. Der Aufhörende sieht immer aus wie ein Ei, der Anfangende wie ein Pfeil (um Ernst Blochs Beschreibung von Zurückbleibenden und Abreisenden umzuwidmen). Dabei wird immer nur das Beenden einer Funktion in den Blick genommen. Wenn die Betreffenden Glück haben, wohnt wahre Kontinuität für sie ganz anderem inne.
