Von Krisen und der Sehnsucht, frei zu sein

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Mit dem Roman "Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland" erprobt Marlene Streeruwitz eine neue Facette doppelter Fiktionalität.

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Mit dem Roman "Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland" erprobt Marlene Streeruwitz eine neue Facette doppelter Fiktionalität.

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Ein genialer Coup. Gewiss. Marlene Streeruwitz ist für Überraschungen gut. Besonders interessant wird es aber, wenn das literarische Werk zum fiktionalen Paralleluniversum wird. In ihrem im Sommer erschienenen Roman "Nachkommen", der für die Longlist des "Deutschen Buchpreises" nominiert worden ist, ist von der Protagonistin Nelia Fehn die Rede, die als Debütautorin gerade ihre ersten Schritte im Literaturbetrieb macht. Pünktlich zum Literaturherbst und zur Frankfurter Buchmesse, erscheint nun das fiktionale Debüt der Nelia Fehn, verfasst von Streeruwitz.

Auf der Shortlist sind die "Nachkommen" nicht, obgleich genau dieser Roman schamlos und treffsicher hinter die Kulissen dieses Literaturbetriebs blickt, tief hinein in die Welt von Vermarktung und literarischer Öffentlichkeit. Nelia Fehn ist noch ahnungslos. Doch eines weiß sie genau. Sie kann da nicht mitmachen und widersetzt sich gleich von Vornherein den Gepflogenheiten, quasi den Grundgesetzen des Marktes und dem dicht gewebten System der Abhängigkeiten. Streeruwitz legt offen, wie das Hierarchiegefüge geknüpft ist und die Rollen verteilt sind, wo der Platz der Autoren ist. Fehns Roman bleibt vorerst ein Geheimnis. Nur vage Andeutungen lassen vermuten, dass er viel mit dem Leben der Protagonistin gemeinsam hat, das nebenbei aufgerollt wird. Der spröde Charakter der Heldin weckt jedenfalls sofort die Neugier. Im Klappentext des neuen Romans spinnt sich die Fiktion fort. So werden beide Autorinnen kurz porträtiert - Nelia Fehn mit einem Jugendfoto Streeruwitz'.

Matrix der Freiheit

Die Handlung der "Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland" spielt im krisengeschüttelten Griechenland. Die Ich-Erzählerin Nelia hat auf Kreta ihre Halbschwester besucht und möchte nun nach Athen zu Marios, den sie liebt. Sie wollen an einer Demonstration "für die Anerkennung der Grundrechte" von Frauen gegen Polizei und Innenminister teilnehmen. Überhaupt stellen sie sich gegen "die lange Geschichte des Schattenstaats in Griechenland", in dem Korruption und Militär regieren. Ein Bekannter nimmt sie zur Fähre mit. Nach einem Zwischenfall gelingt es ihr am nächsten Tag von Kreta wegzukommen. Dann überschlägt sich das Geschehen. Irgendwann landet Nelia in Athen, wo demonstriert wird. Die Polizei ist so präsent, dass man höllisch aufpassen und sämtliche digitale Spuren verwischen muss.

Streeruwitz bündelt unterschiedliche Themenkomplexe. In ihrem sozialen Gemälde kartografiert sie zum einen die Auswirkungen der Eurokrise auf die Griechen, die mit den Konsequenzen der Korruption leben müssen. Als die Fähre einen Motorschaden hat, benötigt man die Schwimmwesten. Sie sind nicht mehr da, weil sie jemand verkauft hat. Obwohl man nicht mehr weit vom Ufer entfernt ist, gibt es aufgrund von Sparmaßnahmen keinen Feuerwehreinsatz. Vielleicht sei sogar die Fähre verkauft worden, um sich damit den Lebensstil finanzieren zu können. Das mediale Echo nach dem Aufspannen des Rettungsschirms habe gezeigt, dass im restlichen Europa kein Verständnis mehr da sei, nur Wut. Man habe "die Griechen ... nach Ausbruch der Krise selbst für ihre Krise verantwortlich" gemacht.

Zum anderen geht es wie in vielen anderen ihrer Werke auch um die Möglichkeiten von Frauen, "ums Leben und die Macht darüber, und es sind viele Stimmlagen involviert". Selbstbestimmung und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, wie das Schicksal Despinas zeigt, die Nelia zufällig kennenlernt. Sie erwartet ein Kind, das sie abtreiben will, weil sie in ein auswegloses Beziehungsschlamassel verstrickt ist: "Am Ende ist eine Frau dann zerstört." Gemeinsam mit Despina entwirft Nelia eine Vision von Unabhängigkeit, eine Matrix der Freiheit oder schlicht lebbare Varianten für ihr unbeständiges Dasein. Dabei entsteht ein Katalog von Rechten, auf die Nelia als Anarchistin pocht: Kommunikation dürfe nicht nachverfolgbar sein, "das Recht auf freie Bewegung" müsse eingefordert werden, Pässe seien unnötig, weil sie Menschen festschreiben: "Wir wollten unbeschriebene Blätter mit der Freiheit der Selbstbeschreibung sein." In einem 3sat-Interview sieht Streeruwitz ihre Protagonistin sogar als Flüchtling. Die Menschen seien in Europa nicht mehr sesshaft, die diesbezüglichen Auswirkungen auf die Demokratie noch nicht abzusehbar. Der Bewusstseinsstrom ihrer Figur mache das Neue sichtbar.

Schließlich ist da noch das Leben mit der Polizeigewalt, das die Szene in Athen sehr eindringlich zeigt. Überwachung, das Festhalten von Personen, Misshandlungen. Streeruwitz spannt ein weiteres Motiv über die Grammatik der Anarchie, deren Anhänger "mit ihrer Gewaltbereitschaft jedoch die Grundrechte anderer" gefährden.

Scharfsinniges Zeitdokument

Streeruwitz präsentiert ein Crossover essentieller Themen. Angriffig und subversiv wie immer berührt sie mit souveränem Gespür für die Koordinaten markanter gesellschaftlicher Entwicklungen Fragen der Zukunft. Nelias Geschichte hält sie manchmal offen. Als Protagonistin konturiert sie sie stark, kämpferisch, mit Hang zur Selbstkritik, "das Denken" will sie sich "nicht abgewöhnen" lassen. Dann wieder katapultiert sie sich selbst ins Unglück. Trotz eingehender Reflexion der Situation besteigt sie als junge Frau freiwillig ein Segelschiff, das von zwei unbekannten Skippern gesteuert wird. Aber auch das stärkt den Kunstgriff des fiktionalen Debüts. Der Roman ist als scharfsinniges Zeitdokument zu lesen, in dem Streeruwitz Transformationen des modernen Lebens inszeniert. Und er stößt politische Fragen an in einer schwebenden, unsicheren Welt des Umbruchs: "Ich bemühe mich, an ein Wunder zu glauben, aber das wird manchmal sehr schwer."

Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland

Roman von Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn, S. Fischer 2014.188 Seiten, gebunden, € 19,60.

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