6775220-1969_19_04.jpg
Digital In Arbeit

Aus dem Turm verstoßen

Werbung
Werbung
Werbung

Andnäs Hegedüs, Ungarns führender Soziologe, der nach Räkosis Sturz einige Jahre Ministerpräsident des Landes war, erhielt wegen seinen „rechtsrevisionistischen Ansichten“ Mitte November 1968 vom Parteisekretariat einen sehr scharfen Verweis. Manche vermuteten schon damals, daß die Tage Hegedüs' als Direktor der Soziologischen Forschungsgruppe der Ungarischen Akademie für die Wissenschaften gezählt seien. Die Zeitschrift „Pärtelet“ griff Hegedüs seinerzeit nicht mit Samthandschuhen an. Hegedüs' Artikel in der Februarnummer der „Tärsadalmd Szemle“ verriet dann, daß der auch im Ausland wohlbekannte führende Soziologe seine erwähnte Stelle als Direktor verloren habe. Die scharfe Kritik der „Pärtelet“ über den Direktor des Philosophischen Instituts der Wissenschaftlichen Akademie, Jözsef Szigeti, und über den Parteisekretär desselben Instituts. Jänos Sipos, denen „sektiererische Verzerrungen“ vorgeworfen wurden, ließ es vorausahnen, daß es auch mit ihrer weiteren wissenschaftlichen Karriere nicht mehr am besten bestellt war. Jetzt besteht kein Zweifel mehr darüber, daß auch diese zwei Wissenschaftler ihre Posten verloren haben. Die letzte Bestätigung lieferte dazu der italienische kommunistische Politiker und Publizist, Guiseppe Boffa, in der „L'Unita“. Laut Boffa wurden Szigeti und Sipos als „Sektierer“ getadelt und hinausgeschmissen. Sie wagten es nämlich, öffentlich und schriftlich zu verkünden, daß aus den tschechoslowakischen Ereignissen eine „Lehre“ gezogen werden müsse. Und noch mehr: die Genannten plädierten offen dafür, daß Ungarn seine Politik dringend „modifizieren“ sollte, besonders, was die interne Erstarrung anbetrifft. Die beanstandete starre Härte iist aber keine Erfindung des Genossen Kädär, sondern eine Kremlinspiration, die zu tadeln mehr als eine ideologische Ketzerei sei.

Wie man jetzt erfährt, wurde Andräs Hegedüs zur Forschungsgruppe für Industriewirtschaft der Wissenschaftlichen Akademie abgeschoben, wo er voraussichtlich keine größeren öffentlichen Schäden mehr anrichten kann. Das Schicksal von Direktor Szigeti und Parteisekretär Sipos ist hingegen vollkommen unbekannt. Es wurde bisher ebenfalls nicht mitgeteilt, welche mehr linientreue und vom Parteistandpunkt aus absolut verläßliche Wissenschaftler ihre führenden Rollen übernommen haben. Der Nachfolger von Hegedüs heißt Kälmän Kulcsär, der sich in einem langatmigen Artikel in der Märznummer 1969 der „Tärsadalmi Szemle“ vorstellte. Er sinnierte weit ausschweifend über die „sozialen Funktionen der Soziologie und Politik“, wobei es sich jeder wissenschaftliche Satellit der Kremlweisen vor Augen halten muß und niemals vergessen darf, daß der Weisheit letzter Schluß, die Quintessenz aller gültigen Wissenschaften, von den parteiamtlichen Muezzins vom Erker des Elfenbeinturms der sowjeteuropäischen Zentralmoschee in Moskau täglich vorgebetet wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung