Danke, Frère Roger!

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Persönliche Erinnerungen an Roger Schutz, den Gründer der Gemeinschaft von Taizé, anlässlich des 100. Geburtstags am 12. Mai und des zehnten Todestags am 16. August.

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Persönliche Erinnerungen an Roger Schutz, den Gründer der Gemeinschaft von Taizé, anlässlich des 100. Geburtstags am 12. Mai und des zehnten Todestags am 16. August.

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Das Telefon wollte an diesem frühen Sonntagmorgen nicht aufhören zu läuten. Erst drei Tage war ich von herausfordernden Dreharbeiten auf den Philippinen zurück. Ich tapste zum Hörer. Es meldete sich Frère Roger, der Prior von Taizé: "Johannes ich bin so froh, dass ich Sie erreiche. Ich hörte, dass ihr, unmittelbar nachdem ich von den Müllmenschen in Manila weggefahren bin, überfallen worden seid. Es tut mir so leid. Alles nur, weil ihr einen Film über unsere Bruderschaft drehen wollt ...". Zuerst war ich sprachlos. Dann erzählte ich Frère Roger, dass zwar der Kameramann verletzt und die Filmausrüstung geraubt wurde, es uns aber wieder gut geht. Jedoch vor allem war ich überwältigt von der Zuwendung Frère Rogers, der als Prior von über 100 Brüdern und als Gastgeber von tausenden Jugendlichen auf dem Hügel von Taizé sicher andere Dinge zu tun hatte, als mich anzurufen, kurz vor Ostern 1991.

Als 19-Jähriger war ich 1976 zum ersten Mal in Taizé. Freunde unternahmen mit ihrem VW-Bus eine Tour nach Burgund. Da durfte das "christliche Woodstock" nicht fehlen. Sie wollten nur ein paar Stunden bleiben und sich umsehen. Hauptsächlich wegen der zahlreichen Mädchen. Die Glocken läuteten und unzählige Jugendliche strömten aus den Zelten und Baracken in Richtung einer Betonkirche. Auch ich ging hin und verliebte mich sofort in die Gesänge und die langen Zeiten der Stille, die die Spiritualität der Bruderschaft ausmachen. Am Ende des Gebets sprach Frère Roger in schlichten Worten übers Miteinander-Teilen.

Eine glaubwürdige Vaterfigur

Mutter Teresa war gerade zu Gast in Taizé und an Frère Rogers Seite. Ich fühlte mich gleich zu Hause, verabschiedete mich von meinen Freunden und blieb zwei Wochen. Wie viele junge Männer war ich damals auf der Suche nach glaubwürdigen Vaterfiguren. Frère Roger war so jemand. Er arbeitete in den Sterbehäusern der Mutter Teresa und hatte von dort einen Säugling mitgenommen, der die Regenzeit nicht überlebt hätte. Gemeinsam mit seiner Schwester Geneviève zog Frère Roger das Mädchen groß. Heute ist Marie-Sonaly verheiratet, Mutter einer Tochter und arbeitet als Psychologin.

Frère Roger besuchte Jugendliche an damaligen Brennpunkten: In Chile, in den südafrikanischen Homelands, in den Slums von Nairobi und Haiti. Er nahm in Taizé Flüchtlingsfamilien aus Kambodscha auf. "Kampf und Kontemplation" nannte man das in Taizé. In Linz versuchte ich das umzusetzen. Gemeinsam mit Freunden gründete ich eine Wohngemeinschaft für Behinderte und Nichtbehinderte und lebte sieben Jahre dort. Die WG in der Sandgasse gibt es bis heute.

Zu Pfingsten 1989 kam ich im Auftrag des ORF-Religionsmagazins "Orientierung" wieder nach Taizé. Aus den geplanten zehn Minuten Interview wurden mehrere Stunden. Frère Roger spürte, dass Umwälzungen in Osteuropa bevorstanden. Taizé unterhielt jahrzehntelang Geheimkontakte hinter dem Eisernen Vorhang. Er erkannte schon damals die Gefahren der Globalisierung und sagte, dass der Platz der Christen an der Seite der Benachteiligten sei. Er erzählte von den jüdischen Flüchtlingen, denen er bis November 1942 bei der Flucht über die nahe Grenze in die Schweiz geholfen hatte, von den deutschen Kriegsgefangenen, die er unmittelbar nach dem Krieg mit Lebensmitteln versorgte und von den vielen französischen Waisenkindern, die seine Schwester mit Hilfe der Brüder in Taizé großzog.

Auf mein beharrliches Fragen hin erzählte er von seinem Vater, einem strengen evangelischen Pastor, der nicht wollte, dass sein Sohn eine monastische Bruderschaft gründete: "Am Totenbett fragte er mich: Wie stellst du dir die Zukunft vor? Du wirst immer von den Almosen anderer abhängig sein! Ich sagte: Aber nein, ich habe gelernt, Kühe zu melken und in der Landwirtschaft zu arbeiten. Ich werde niemals Spenden annehmen. So geschah es auch. Wir Brüder gründeten mit den Bauern eine Kooperative und leben heute von unserem Kunsthandwerk und den Büchern. Nicht einmal die Erbschaften der Brüder nehmen wir an."

Für die TV-Religionsabteilung im ORF begleitete ich Frère Roger nach Ungarn, Polen, Prag und auf die Philippinen. Bereits vor dem überwältigenden Wiener Taizé-Treffen 1992 mit über 105.000 Jugendlichen war Frère Roger zu Gast in Österreich. Im Mai 1989 auf dem Weg ins ungarische Pécs machte er einen Stopp in Wien und traf Kardinal Groër. Frère Roger, der um das viele Trennende zwischen ihnen beiden wusste, nahm Groër an der Hand, ging zu einer Marienstatue und verweilte mit ihm lange im Gebet. Ich verstand: Dies ist die "Gewalt der Friedfertigen", über die er zuweilen in Taizé sprach.

Im Winter 2005 plante ich wieder nach Taizé zu kommen. Im Mai würde Frère Rogers 90. Geburtstag sein. Er war alt geworden. Ich wollte in der grauen burgundischen Winterlandschaft einen schlichten Film über Frère Rogers Hoffnungen, aber auch über seine Enttäuschungen und das Unerfüllte in seinem Leben drehen. Der Presseverantwortliche der Brüder war entschieden dagegen. Wenn, dann sollte ich im Frühjahr kommen, wo alles blüht. Über die "Mühen der Ebene" sollte gar nicht geredet werden. Das Projekt platzte.

Einige Monate später war Frère Roger doch auf allen TV-Kanälen zu sehen. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten von Johannes Paul II. am Petersplatz reichte Kardinal Josef Ratzinger, der spätere Papst, dem im Rollstuhl sitzenden protestantischen Frère Roger die Kommunion. Ein unübersehbares Zeichen, dass es Frère Roger mit seinem glaubwürdigen Leben gelungen war, die engen konfessionellen Grenzen zu überwinden!

Die Todesnacht in Taizé

Frère Roger war Konzilsbeobachter gewesen, und Taizé pflegte zu allen Päpsten vertrauensvolle Kontakte. Die tiefste Beziehung hatte er zu Johannes XXIII. Wenn er von ihm sprach, leuchteten seine Augen und er öffnete seine Arme, als wollte er ihn umarmen. Er erzählte mir, wie es ihm erging, als er dessen Todesnachricht erhielt: "Im Abendgebet wollte ich Gott für Johannes XXIII. danken, aber es kam mir kein Wort über die Lippen und es war mir, als würde mir der Boden unter meinen Füßen weggezogen. Wer wird uns jetzt verstehen? Wieviel Vertrauen hat er uns geschenkt und wieviel Liebe!"

Am 16. August 2005 hörte ich in den Nachrichten vom gewaltsamen Tod Frère Rogers. Eine verwirrte Frau hatte ihn am Beginn des Abendgebetes mit drei tiefen Messerstichen in den Hals und Rücken getötet. Ich musste ein "kreuz und quer Spezial" über Frère Roger zusammenstellen.

Frère François, der alte Novizenmeister der Brüder, erzählte mir später von der Todesnacht in Taizé: "Um Panik unter den mehr als 2000 Jugendlichen zu vermeiden, sangen wir Taizé-Lieder. Ich ergriff das Mikrofon und erzählte ihnen, dass Frère Roger sofort verstorben war und nicht leiden musste. Ich sagte ihnen, dass besonders bei einem gewaltsamen Tod ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit und der Verzweiflung aufkommt. Jedoch auf Gewalt können wir nur mit Frieden antworten. Frère Roger hat dies immer wieder betont. Der Friede verlangt den Einsatz der ganzen Person, im Äußeren wie im Inneren." Der Chef der Mordkommission von Macon verzichtete auf die Tatortabsperrung, und so konnten die Brüder und die Jugendlichen die Nacht gemeinsam in der Kirche verbringen. Ein Bruder sagte mir später: "Ein Mann des Friedens stirbt nicht unweigerlich im Bett. Bei Frère Roger konnte ich mir keine feierliche Todesstunde vorstellen, bei der er blass, umgeben von seinen Vertrauten, auf sein Lager gebetet einschläft."

"Gott kann nur lieben!" Diese tiefe Einsicht hat Frère Roger mir und unzähligen anderen überzeugend vermittelt. Danke, Frère Roger!

| Der Autor ist systemischer Psychotherapeut und Dokumentarfilmer |

BUCHTIPP: Danke, Frère Roger Persönliche Erinnerungen an den Gründer von Taizé. Von Klaus Hamburger. Adeo 2015.224 S., geb., € 18,50

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