Vagabundierender Kulturwissenchschafter Roland Girtler - Auf Girtlers Visitenkarte steht u. a.: „Ehrenkiberer, Ehrenmitglied der Zigeuner von Hermannstadt, Schüler in Gottes Weltuniversität, Jongleur …“<br />
  - © Wolfgang Machreich

Roland Girtler: „Ich bin kein Richter, nur Zeuge!“

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Am 31. Mai feiert Roland Girtler seinen 80. Geburtstag. Willkommener Anlass für eine Stunde Kaffeehaussoziologie mit dem „vagabundierenden Kulturwissenschafter“: Ein Gespräch über einige seiner Zehn Gebote der Feldforschung.

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Am 31. Mai feiert Roland Girtler seinen 80. Geburtstag. Willkommener Anlass für eine Stunde Kaffeehaussoziologie mit dem „vagabundierenden Kulturwissenschafter“: Ein Gespräch über einige seiner Zehn Gebote der Feldforschung.

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Als vagabundierender Journalist habe ich mir für den ersten Kaffeehausbesuch nach dem Lockdown ein besonderes Kaffeehaus und einen noch besondereren Besuch ausgesucht. Ich treffe den „vagabundierenden Kulturwissenschafter“ Roland Girtler, wie sich der Soziologieprofessor emeritus in seinen „Streifzüge“-Kolumnen in der „Krone bunt“ tituliert.

Girtler hat uns einen Tisch in seinem Stammcafé Landtmann neben dem Wiener Burgtheater reserviert. Ich verspäte mich ein wenig und frage die für die Kontrolle des Coronatests zuständige Dame, ob der Professor schon da sei: „Nein, auf keinen Fall, der Herr Professor Girtler wäre mir sicher aufgefallen“, antwortet sie. Nach einer akademischen Viertelstunde tritt Girtler an den Tisch, und ich verstehe, was die Frau an der Covid-Rezeption meinte: der Professor als Vagabund, der Intellektuelle als Mann des Volkes, der alte Herr als schrulliger Kauz, der Städter als Provinzler – in „sein“ Landtmann geht Girtler, noch dazu nach monatelanger Corona-Zwangsabstinenz, nicht bloß hinein, der Professor erscheint. Die Herren Ober („Über die hab ich ein Buch geschrieben!“) grüßen ihn von Weitem, die Gäste, die ihn kennen, nicken ihm zu, und diejenigen, die ihn nicht kennen, folgen ihrem Instinkt, dass bei dem Herrn mit Trachtenhut, Rucksack und zu lauter Stimme für das feine Lokal der Schein nichts mit dem Sein zu tun hat, und nicken ebenfalls höflich.

Für eine gelungene Karriere brauche es „Sein, Schein und eine Menge Schwein“, wird Girtler im Laufe des Gesprächs den Rat eines Rabbiners zitieren: „Du musst viel arbeiten, das ist das Sein, ein guter Schmäh ist genauso wichtig, das ist der Schein, und Glück brauchst immer“, dekliniert er das auch für ihn zutreffende Erfolgsrezept herunter.

Am 31. Mai 1941 in Wien geboren, wächst Girtler in Spital am Pyhrn auf. Der Vater war Arzt im Landspital. Die Eltern legten Wert darauf, ihre Kinder ohne die Betonung von Standesunterschieden zu erziehen: „Wir mussten eine Magd am Markt grüßen, sonst hätten wir eine Watsche gekriegt“, sagt Girtler. Er erzählt von seinem Freund Manfred, Kind einer Kriegerwitwe, „sehr arme Leute“, er berichtet von ihren Abenteuern in den Wäldern und wie sie in der bäuerlichen Gegend in der Nachkriegszeit aufwuchsen. Girtler-Soziologie am Kaffeehaustisch, so wie er sie von den Uni-Kanzeln und in dutzenden Büchern lehrt: ausschweifend beschreibend, wohlwollend verstehend, niemals richtend. Oder wie es die Regel neun seiner „Zehn Gebote zur Feldforschung“ fordert: „Du sollst dich nicht als Missionar oder Sozialarbeiter aufspielen. Es steht dir nicht zu, ‚erzieherisch‘ auf die vermeintlichen ‚Wilden‘ einzuwirken. Du bist kein Richter, sondern lediglich Zeuge!“ Aber Girtler wäre nicht Girtler, wenn er nicht noch eine Anekdote an seine Ausführungen anhängen könnte: „Der Manfred, mein Freund, ist unlängst gestorben, da hat mich seine Tochter gebeten, dass ich was über ihn schreibe. Die Tochter ist eine Narrische, eine wirkliche Narrische, aber im positiven Sinn, ich weiß nicht, ob Sie den Namen kennen: Gerlinde Kaltenbrunner?“

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