Schubumkehr bei den journalistischen Überfliegern

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Unmittelbar nach dem 11. September war zunächst alles klar. Der wahnwitzige Terroranschlag auf das World Trade Center wurde als Ausdruck der Gewaltbereitschaft eines religiös und politisch irregeleiteten und (möglicherweise auch wirtschaftlich) verbrecherischen Systems gedeutet, das tausende unschuldige Opfer in Kauf nimmt: Amerikaner, Europäer, Menschen aus aller Welt, die sich regelmäßig oder zufällig an diesem ökonomischen Kristallisationspunkt in New York aufhielten. Ein Großteil der politischen und journalistischen Kommentatoren ging auch mehr oder weniger konform mit der Interpretation des amerikanischen Präsidenten, es habe sich hier um eine Kriegserklärung gehandelt - gegen Amerika, gegen den "Westen", gegen eine demokratische, liberale Ideologie und Lebensform, der man adäquat entgegentreten müsse.

Nachdem der große Gegenschlag - ein tatsächlicher Krieg mit allen Mitteln - gegen ein ohnedies zerstörtes Land, in dem der mutmaßliche Drahtzieher des Terrorismus auch nur vermutet werden kann, bisher dank der Besonnenheit Amerikas und der internationalen Gemeinschaft ausgeblieben ist, melden sich manche Schreibtischpolitiker quasi gelangweilt ab von der Front und sondieren das Hinterland: ob es nicht doch neben Osama Bin Laden andere taugliche Angriffsziele geben könnte - die Globalisierung, den internationalen Kapitalismus, den politischen und religiösen Pluralismus, den dekadenten amerikanischen beziehungsweise westlichen Lebensstil, die Ausbeutung von Entwicklungsländern durch den Konsumterror... und plötzlich lesen sich Wortmeldungen in an sich angesehenen Medien ganz anders als noch vor Tagen, Opfer werden zu Tätern, oder vereinfacht: "eigentlich geschieht den überheblichen Amis recht".

Nun gibt es an Amerika und der sogenannten westlichen Welt, am System aller entwickelten Industrienationen genug zu kritisieren. Aber in der derzeitigen Situation erinnert diese Argumentation an ein Flugzeug mit Schubumkehrproblemen: zu hohe Beschleunigung und gleichzeitig abrupte Bremsvorgänge können sich fatal auswirken. Auch bei journalistischen Überfliegern.

Die Autorin ist Professorin für Gesellschaftspolitik an der Universität Linz.

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