Der Riss durch die Welt

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Giorgio de Chirico, der Maler der Entfremdung, in einer einzigartigen Retrospektive in Padua. von wieland schmied

Eine Retrospektive von Giorgio de Chirico (1888- 1978) zustande zu bringen, ist heute wohl die schwierigste Aufgabe, die sich einem Ausstellungsmacher stellen kann, wenn er denn überhaupt bereit ist, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Ohne die Einbeziehung seines Frühwerks, der eigentlichen Genie-Phase de Chiricos, in der er die Bilder seiner pittura metafisica schuf, ist jede seriöse Retrospektive undenkbar, selbst in Italien, wo man die später entstandenen Bilder viel höher einschätzt als sonst irgendwo in der Welt. Bis 1919, als er von der pittura metafisica Abschied nahm, hat de Chirico nicht mehr als 150 Werke geschaffen, von denen knapp die Hälfte wirklich wichtig sind. Und diese Hälfte gehört privaten Sammlern oder öffentlichen Museen außerhalb Italiens, die alles andere als leihfreudig sind (so sie das jemals waren).

Eine Ausstellung …

Ein anderer Grund für die Schwierigkeit, eine Retrospektive des Oeuvres von de Chirico zu veranstalten, liegt im Faktum, dass von diesem mehr Fälschungen im Umlauf sind als von irgendeinem anderen Maler der Moderne. Da ist es nur ein schwacher Trost, dass der ebenfalls viel gefälschte Dalì einmal sagte: "Wäre ich ein schlechter Maler, niemand käme auf den Gedanken, mich nachzuahmen." Das gleiche gilt für de Chirico - der neben Picasso, Kandinsky und Duchamp unbestritten zu den Gründungsvätern der Moderne gehört -, vielleicht sogar in viel größerem Maße als für den beim Publikum populäreren Dalì. Die praktische Folge der zahlreich gehandelten Fälschungen aber bleibt: viele der Leiter öffentlicher Institute lassen (ebenso wie manche private Sammler) von de Chirico lieber die Finger, als Gefahr zu laufen, sich diese zu verbrennen.

So grenzt es an ein Wunder, dass die jetzt im Palazzo Zabarella in Padua gezeigte Retrospektive des Künstlers mit 95 Exponaten überhaupt stattfinden kann. Das ist nicht zuletzt dem nie erlahmenden Engagement wie der profunden Kenntnis der beiden Kuratoren Paolo Baldacci aus Mailand und Gerd Roos aus Berlin zu danken. Es ist erst die vierte (und wohl anspruchsvollste) Retrospektive, die je in Italien vorbereitet wurde. Die einzige, die de Chirico noch erlebte, fand 1970 in Mailand statt, es folgten 1981 Rom und 1988 Venedig. Ferrara, das sich intensiv um eine solche bemühte, blieb erfolglos und zeigte dafür Werke aus dem Besitz des Künstlers.

… grenzt an ein Wunder

Das ist ein Umstand, der verdient, festgehalten zu werden: das Gesamtwerk de Chiricos wurde in seiner italienischen Heimat nicht öfter gezeigt als in Deutschland, wo der Maler als Student der Münchner Kunstakademie die Jahre 1906-1909 verbrachte und die mediterrane Welt mit den Augen des Nordens - etwa mit denen Arnold Böcklins und Max Klingers - wie etwas lange Vergangenes sehen lernte. De Chirico sprach selbst vom "Geografischen Schicksal", das ihm durch seinen Lebenslauf zuteil geworden sei und sein Werk bestimmt habe.

Zu diesem Schicksal gehört die Geburt in Griechenland (wo es noch nie eine Retrospektive gab), in welchem sein Vater mit der Konstruktion von Eisenbahnlinien beschäftigt war. Das thessalische Volos, de Chiricos Geburtsort, war jener Hafen, aus dem der Sage nach in mythischer Zeit die Argonauten auf ihre Suche nach dem Goldenen Vlies aufgebrochen waren.

Von früh auf tauchte de Chirico tief in die Welt des Mythos ein und wusste sich von Zeugnissen der Antike, ihren Tempeln und ihren Statuen, umgeben. Zugleich aber nahm er die zeitgenössische Wirklichkeit mit all ihren technischen Errungenschaften in sich auf. Er wuchs auf mit lauter Widersprüchen. So wurde ihm eine innere Gespaltenheit zur zweiten Natur. Mit dieser doppelten Identität waren die Voraussetzungen gegeben, die ihn 1910-1911 in Florenz und danach in Paris zum Maler der Entfremdung werden ließen, der sich in der irdischen Realität nie ganz zu Hause fühlte. Er spürte - und machte es in seinen Bildern sichtbar: ein Riss geht durch die Welt. Wir sind gleichzeitig in verschiedenen Bereichen verwurzelt und bleiben beiden fremd.

"Pittura metafisica"

In seiner "metaphysischen Malerei" hat de Chirico dem Gegensatz von alt und modern, vergangen und gegenwärtig, von Bewegung und Stillstand, Aufbruch und Gebundenheit, Nostalgie und Zeitlosigkeit in vielfacher Weise Ausdruck gegeben. Dabei bleiben seine Mittel keineswegs nur auf den inhaltlich-ikonografischen Bereich beschränkt. Zu ihnen gehören die kulissenhaften Architekturen ebenso wie der Widerspruch von flatternden Wimpeln in windstiller Luft oder von Uhrzeit und Sonnenstand, wie das unvermittelte Nebeneinander von Lokomotiven und Segelschiffen bzw. von Fabrikschloten und Renaissancepalästen, wie auch die unstimmig "verrückte" Perspektive und die Trennung von Gegenstandsform und Schatten zu ihnen gehört.

Mag man jetzt auch das eine oder andere herausragende Bild de Chiricos in Padua vermissen, es bleibt der Eindruck einer ausgewogenen, die einzelnen Werkgruppen klug gewichtenden und Überflüssiges (das es bei de Chirico auch gibt, besonders im Spätwerk) souverän ignorierenden Ausstellung.

Der Autor war bis 2004 Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Un de Chirico mai visto

e neanche immaginato

(Ein de Chirico, wie man ihn noch nie gesehen, geschweige denn erdacht hat)

Palazzo Zabarella

Via San Francesco 27

I-35121 Padova

www.palazzozabarella.it

Bis 27. Mai täglich 9.30-19.30 Uhr

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