Reise ins Ungewisse

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"Symbolismus in England" und "Böcklin - de Chirico - Ernst" im Münchner Haus der Kunst.

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"Symbolismus in England" und "Böcklin - de Chirico - Ernst" im Münchner Haus der Kunst.

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".../Zu neuem Funde wollen wir ins Reich / Des Unbekannten tauchen bis zum Ende, / Ob Himmel oder Hölle gilt uns gleich!" schließt Baudelaire seine "Reise" in Les Fleurs du Mal (1857). War er "nur" spiritus rector für Generationen von Literaten und Künstlern oder nicht auch Visionär bis weit in unser Jahrhundert hinein? Beides findet bestätigt, wer sich darauf einläßt, den "Traum von Liebe und Tod" mit einer "Reise in Ungewisse" fortzusetzen. Christoph Vitali ist es im Haus der Kunst in München gelungen, mit der gleichzeitigen Übernahme von "Symbolismus in England 1860 bis 1910" (aus der Tate Gallery London) und von "Arnold Böcklin - Giorgio de Chirico - Max Ernst" (aus dem Kunsthaus Zürich) ein neues Kapitel über die Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert aufzuschlagen.

Frankreich als Vorreiter im europäischen Symbolismus, dessen Literaten um Paul Verlaine und Stephane Mallarme erstmals 1886 in "Le Figaro" als Symbolisten mit dekadenten Inhalten beschimpft worden waren, erhält mit diesem spezifisch englischen Beitrag einen starken, bisher eher unterschätzten Konkurrenten.

Herausragende Werke der präraffaelitischen "Altmeister" Dante Gabriel Rossetti und Edward Burne-Jones, von Frederic Lord Leighton und Aubrey Beardsley und anderen entfalten ein glanzvolles Bild aus Dekadenz und Idealismus, ausgeführt in einem überaus feinen Malstil und ausgeprägtem Kolorit. Literatur, Musik und bildende Kunst sind miteinander verwoben durch gleiche Themen ("Salome") und wechselseitige Bezüge. Rossetti, in großer Bewunderung zu Dante, dichtet zu seinen Bildern.

Den fulminanten Auftakt bildet die Galerie der Schönen Damen mit wallendem Haar und vollen roten Lippen, die alle Sehnsüchte und Erotik, Melancholie und Langeweile, Resignation und Todesahnung zu verkörpern scheinen. Sie gleichen sich im Typus, sind unnahbar, doch voller Leben und als Projektion des Künstlers Spiegelbild seiner geheimsten Wünsche, Träume und Ängste. Rossetti prägt seit 1860 dieses Frauenbild, wie es später auch Gustav Klimt, Franz von Stuck oder Edvard Munch aufgreifen werden.

Eine Wende zum Geheimnisvollen hin zeichnet sich in den siebziger Jahren ab. Rossettis "Beata Beatrix" ist das symbolträchtige Bildnis seiner zur Heiligen verklärten Frau. Burne-Jones läßt in seinen allegorischen Stimmungsbildern weibliche Gestalten als "Abend" und "Nacht" über Erde und Wasser schweben, auf "Goldenen Stufen" schreiten junge Mädchen in scheinbar endlosem Reigen eine Treppe hinab - Inspirationsquell für Marcel Duchamp zu seinem berühmten Bild 1912.

Mit großen Themen von Chaos und Schöpfung beschwört George Frederic Watts, dem hier eine späte Hommage zuteil wird, eine andere Welt. Seine "Hoffnung" ist die eindrucksvoll zeitlose Allegorie zwischen Zuversicht und Verzweiflung, "Der Säer der Systeme" (~ 1902) gehört auch in seiner Abstraktion bereits in dieses Jahrhundert. Nur noch schemenhaft bevölkern gespenstisch anmutende Gestalten das Ufer in Böcklins später "Vision auf dem Meer".

Arnold Böcklin (1827-1901), mit Bewunderung wie Ablehnung gleichermaßen bedacht, erfährt eine neue Beurteilung aus der Sicht von de Giorgio de Chirico und Max Ernst. München wurde, wenn auch zeitlich versetzt, zum gemeinsamen künstlerischen Sprungbrett: Böcklin arbeitete hier 1858 bis 1860 und wieder 1871 bis 1874; in seinen Bann geriet de Chirico als Akademiestudent 1908 bis 1910, der den reichen mythologischen Motiv- und Formenschatz Böcklins in seiner "pittura metafisica" umdeutet, später verfestigt und bis in sein Spätwerk hinein in Eigenzitaten fortführt.

Für Max Ernst war die Entdeckung de Chiricos eine Offenbarung: Dadamax tat von hier aus den entscheidenden Schritt in den Surrealismus, noch vor seiner Anerkennung durch Andre Breton 1922 in Paris. Die nur über die Werke miteinander aufgenommenen Kontakte der drei Künstler haben gesicherte und vermutete Spuren hinterlassen. Die Münchner Hofgartenarkaden sind gemeinsames Signet: sie schmückten als Malerei Böcklins Atelierwand, geben den menschenleeren Plätzen de Chiricos Rahmen und Richtung. In ihrem Schatten haben künstlerische Befruchtungen stattgefunden, die eine Entwicklungslinie von der deutschen Romantik und den Symbolismus über die "pittura metafisica" zum Surrealismus aufzeigt.

"Die Reise ins Ungewisse" ist ein Labyrinth aus Rätseln und Vergleichbarkeiten, vergleichendes Sehen ist vor den thematisch hervorragend gehängten Werken nötig: von Böcklins "Toteninsel" zu Max Ernsts Wäldern, von de Chiricos "Beunruhigenden Musen" zu Ernsts "Fiat modes", von der "Vision auf dem Meer" (Böcklin) zu "Luft in Wasser gewaschen" (M. Ernst).

Im Sinne Baudelaires sind seit den Symbolisten alle Höhen und Tiefen durchschritten, Phantasien und Träume ausgelotet. Am Ende dieses Jahrhunderts haben wir neue Ängste, Sehnsüchte und Visionen. Mit den Bildern von Max Ernst um Ewigkeit und Kosmos aus den späten sechziger und frühen siebziger Jahren schließt sich der Kreis - es beginnt eine neue Reise ins Ungewisse.

München, Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, tägl. 10-18, Di.-Fr. bis 22 Uhr.

Symbolismus in England: bis 26 April (15. Mai bis 30. August van Gogh Museum, Amsterdam) - Eine Reise in Ungewisse: bis 3. Mai (20. Mai bis 10. August Nationalgalerie, Berlin).

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