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Ein vertriebener österreichischer Komponist

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Nachruf auf den Komponisten und Musikpädagogen Guillermo (Wilhelm) Graetzer

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Nachruf auf den Komponisten und Musikpädagogen Guillermo (Wilhelm) Graetzer

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Im argentinischen Exil starb nach schwerer Krankheit Anfang des vorigen Jahres der in Wien geborene Komponist und Musikpädagoge Guillermo (Wilhelm) Graetzer, der am 5. September 1994 80 Jahre alt geworden wäre. Graetzer studierte in Berlin Komposition bei Emst Lothar von Knorr und Patd Hindemith, in Wien bei P. A. Pisk, wo er auch am Neuen Städtischen Konservatorium dirigierte.

Im Schicksalsjahr 1938 flüchtete der 25jährige Musiker jüdischer Herkunft aus seiner Geburtsstadt über Ungarn nach Triest und überquerte auf einem der vielen überfüllten Auswandererschiffe den Atlantik nach Mittelamerika. Von Mexiko über weitere lateinamerikanische Stationen landete er schließlich in Buenos Aires, nahm die argentinische Staatsangehörigkeit an und änderte seinen Vornamen „Wilhelm“ in „Guillermo“.

Bei der anfänglichen Orientierung in der neuen Umgebung, deren Sprache er erst erlernen mußte, kamen ihm Jobs als Geschenkartikelverkäufer oder Kaffeehauspianist durchaus gelegen. Erst nach Kriegsende konnte er seine kompositorischen und musikpädagogischen Tätigkeiten so richtig entfalten, die Graetzer dann zu einem kreativen Dreh- und Angelpunkt in der jüngeren argentinischen Musikszene werden ließen. 1946 gründete er das an Hindemiths Volkshochschulen orientierte „Collegium Musicum“ in Buenos Aires, die erste Musikschule Argentiniens, an der auch ausländische Komponisten und Musikpädagogen Seminare gaben und zum Jahresabschluß mehrtägige Musikfestivals stattfanden.

Graetzer lehrte fast dreißig Jahre an der Universität von La Plata Komposition, Orchestrierung und Chorleitung, gründete Anfang der siebziger Jahre den argentinischen Komponisten verband und erarbeitete das neue fünfbändige „OrffSchulwerk“ für Lateinamerika. In der Demokratisierungsphase Argentiniens zu Beginn der achtziger Jahre beriet er das argentinische Kultusministerium bei der musikpädagogischen Erneuerung. Im Mittelpunkt stand jedoch stets das kompositorische Werkschaffen, das sowohl altamerikanische Mythen, hebräische Lieder, afrikanisch Chöre, alte spanische Tänze oder japanische Tankas für Kammermusik umfaßt als auch freie Kompositionen, die seine kon- trapunktischen Techniken und originellen Texturen zu einer polyphonen Perfektion führten.

Mit dem Tod dieses österreichisch-argentinischen Komponi - sten hat das dynamische Musikleben der Kunst- und Kulturmetropole Buenos Aires einen innovationsfreudigen, phantasievollen und gütigen Maestro verloren. Andererseits gilt es, das facettenreiche musikalische Werk Guillermo (Wilhelm) Graet- zers in seinem mitteleuropäischen Geburtsland zu entdecken.

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