"Ja, viele meinen, ich wäre tot"

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Walter Benjamin, Piet Mondrian und Kazimir Malevic\0x02C7 sind schon vor langer Zeit verstorben - dennoch halten sie weiterhin Vorträge, fertigen Malereien an und verfassen offene Beschwerdebriefe.

Irgendwann zwischen 1927 und 1940 notierte Walter Benjamin bei seinem Unterfangen, sich darüber zu vergewissern, was Geschichte sei, in sein "Passagen-Werk", dass das "Gewesene einer bestimmten Epoche doch immer zugleich das, Von-jeher-Gewesene' ist. Als solches aber tritt es jeweils nur einer ganz bestimmten Epoche vor Augen: der nämlich, in der die Menschheit, die Augen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches erkennt". 1940 überlebte Walter Benjamin seine Flucht vor den Nazi-Schergen nicht mehr. Im Juni 1986 dürften sich einige Leute durchaus die Augen gerieben haben, als im Cankarjev dom in Ljubljana ein gewisser Walter Benjamin zu einem Vortrag erschien.

Der Vortragssaal war mit Werken von Piet Mondrian zu einem Ausstellungsraum umfunktioniert. War bezüglich des Vortragenden beim Publikum eine gewisse Skepsis auszumachen - schließlich war der Autor Walter Benjamin schon lange tot -, so waren die Arbeiten an den Wänden scheinbar Originale. Erst ein zweiter Blick offenbarte die dilettantische Ausführung, außerdem konnte der 1944 verstorbene Piet Mondrian schwerlich zwischen 1963 und 1996 noch Malereien geschaffen haben, wie dies sowohl die Datierungen als auch der Titel des Vortrages unterstellten. Walter Benjamin erklärte dazu: "Selbst wenn wir auch nur für einen Moment glaubten, dass wie durch ein Wunder Mondrians originale Werke für diese Gelegenheit gesichert worden wären, würden uns schnell die Daten auf den Gemälden selbst verwirren. Die einzig wahren Fakten sind die Bilder, die wir sehen. Solch einfache Bilder und solch komplexe Fragen. Wir wissen nicht, wer der Autor dieser Gemälde ist, noch kennen wir ihre Herkunft oder ihre Bedeutung." Und dennoch verfehlten sowohl Ausstellung als auch Vortrag ihre Wirkung nicht.

Letzte Futuristische Ausstellung

Die Schwierigkeiten hatten allerdings schon einige Monate zuvor begonnen, als ein gewisser Kazimir Malevic\0x02C7 in einer Belgrader Wohnung die "Letzte Futuristische Ausstellung 0,10" zeigte, die alle Kunstgeschichtebücher über das 20. Jahrhundert in einer Schwarz-Weiß-Fotografie dokumentieren. Dort ist sie allerdings jeweils mit dem Jahreswechsel 1915/16 datiert, als Ort wird immer Petrograd beziehungsweise Petersburg angegeben. Bloß der Stuhl, den die Originalfotografie zu Füßen der Gemälde festhält, fehlte nun in Belgrad, als ob sich hier die bedrohliche Botschaft eingeschlichen hätte, dass man ab nun nicht mehr auf irgendeiner einfachen Geschichtssitzstatt Platz nehmen könnte. In seinem Text "Gott ist nicht gestürzt!" aus dem Jahr 1920 hatte Malevic\0x02C7 ausgerufen: "Wo ist eigentlich mein Anfang und mein Ende (welch unsinniges Suchen hat sich die Allgemeinheit ausgedacht!)." Weil viele Leute den Text von 1920 nicht kannten, setzte nun der gewisse Malevic\0x02C7 aus Belgrad in einem offenen Brief "an seine Freunde" auch noch eines drauf. "Ich weiß, dass dieser Brief für die meisten von Euch eine große Überraschung ist, weil allgemein angenommen wird, ich sei 1935 gestorben. Ja, viele meinen, ich wäre tot. Aber stimmt das?"

In eben diesem Brief beschwert sich Malevic\0x02C7 auch über den Künstler David Diao, der seine Bilder kopiert habe. Tatsächlich gibt es eine Verwandtschaft zwischen Diao und dem Belgrader Malevic\0x02C7. Während aber Diao als Vertreter der Appropriation Art sich Werke anderer Kunstschaffender aneignet und sie mit seinem eigenen Namen signiert, verliert sich der Belgrader Malevic\0x02C7 - und mit ihm auch der Walter Benjamin aus Ljubljana gemeinsam mit dem dort ausgestellten Piet Mondrian - in der Anonymität. In der Anonymität des Namens und der Kunstwerke eines anderen, die beide sorgfältig dilettantisch kopiert werden.

Einfache Verschiebungen

Diese Kopien erscheinen in den Ausstellungen als Originale, ohne ihren Status als Kopie zu verlassen oder auch nur verlassen zu wollen. Mit einfachen Verschiebungen reißen Malevic\0x02C7, Benjamin und Mondrian neue Welten auf, für die uns noch keine passenden Erklärungsmuster zur Verfügung stehen, obwohl diese Welten sich unmittelbar vor unseren Augen ereignen. Ein letzter kleiner Hinweis - wiederum eine Kopie aus dem Verlag Zweitschrift von Malevic\0x02C7, Benjamin und Mondrian - gibt zu bedenken, dass es hier nicht um Kunstwerke geht, sondern um Verhaltensweisen der Kunst gegenüber. Selten ist ein Hier dermaßen überall wie hier.

Teil 4 der FURCHE-Serie "Kunst in Kontakt" - in Zusammenarbeit mit der Erste Bank Gruppe

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