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"Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen": Vielfacher Verlust

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Aharon Appelfeld, am 16. Februar 1932 als Sohn assimilierter Juden in der Nähe von Czernowitz geboren, widmet sich in seinem neuen Roman erneut der Shoah.

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Aharon Appelfeld, am 16. Februar 1932 als Sohn assimilierter Juden in der Nähe von Czernowitz geboren, widmet sich in seinem neuen Roman erneut der Shoah.

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"Was in jenen Tagen des Schlafs genau geschah, werde ich vermutlich nie erfahren. Von Zeit zu Zeit erinnere ich mich an eine Stimme, die zu mir gesprochen hatte, an den Geschmack eines Bissens Brot, den man mir in den Mund geschoben hatte, doch ansonsten war nur Finsternis geblieben." Aharon Appelfeld, am 16. Februar 1932 als Sohn assimilierter Juden in der Nähe von Czernowitz geboren, widmet sich in seinem jüngsten Roman erneut der Shoah, wobei der Roman sowohl fiktive Elemente enthält als auch persönlich Erlebtes anderen Personen zuschreibt. Wie schon in "Alles was ich liebte" wird über den eigentlichen Terror des faschistischen Antonescu-Regimes nur indirekt berichtet. Als der jugendliche Protagonist Aharon, der zu diesem Zeitpunkt noch Erwin heißt, mit einem Flüchtlingstreck in Neapel ankommt, erstreckt sich zwischen den Erinnerungen an eine idyllische Kindheit und den verstörenden Eindrücken der Erzählgegenwart ein amnesieähnlicher Schlaf ...

Verlorene Sprache

Es ist die erschütternde Geschichte eines vielfachen Verlustes, von dem Appelfeld ebenso eindringlich wie lakonisch erzählt: Verlust der Kindheit, Verlust der Familie, die im Traum als komplementäre Realität aber stets präsent ist, Verlust der Heimat -und der schleichende Verlust der deutschen Muttersprache. Denn im Ausbildungscamp der Hagana, die den jungen Aharon in Neapel als Kämpfer für den bevorstehenden Befreiungskrieg rekrutiert, und später in Israel werden die angehenden Pioniere strikt angehalten, untereinander ausschließlich Hebräisch zu sprechen. Vertrauen und Geborgenheit entstehen in dieser Gruppe junger Männer nur allmählich; zu traumatisiert ist jeder, um viel von sich preiszugeben: "Von jenen dunklen Jahren hatte ich weder mir selbst noch meinen Freunden erzählt. Diese erzählten allerdings auch nichts. Einmal hatte ich Marek [der sich später das Leben nehmen sollte] die Frage gestellt, wo er während des Krieges gewesen sei. Er hatte mir einen Blick zugeworfen, der mich endgültig zum Schweigen brachte. Danach kannte ich die Grenzen unserer Gespräche."

Dieser Prozess der Selbstfindung wird jäh unterbrochen von einer schweren Verwundung, die sich Aharon bei seinem ersten Kampfeinsatz zuzieht; sie reißt ihn nicht nur aus der neuen Gemeinschaft wieder heraus, sondern zerstört vorerst auch die Perspektive auf ein ländliches Leben im Kibbuz. Erst verhalten doch dann immer stärker erwacht in Aharon während der langen Zeit seiner Rekonvaleszenz die Berufung zum Schriftsteller.

Aus der Krise schreiben

Die Überwindung der Krise infolge der schweren Beinverletzung geht Schritt für Schritt mit der Aneignung der neuen Sprache; anders als bei der praxisorientierten Schulung im Ausbildungscamp nähert sich Aharon dem Hebräischen - und damit der Religion der Großeltern - nun auf meditative Weise, indem er Abschnitte der Bibel abschreibt: "Wenn es mir gelingen würde, meine Finger mit den Buchstaben zu verbinden, würden auch meine Knochen wieder heil werden." Anders als bei einigen seiner Freunde, denen Krieg und Vertreibung ihre künstlerischen Ambitionen abgewürgt hat, erfüllt sich Aharons Wunsch: "Plötzlich kam die Melodie zurück, die meine Finger auf dem Papier weitergetrieben hatten, und ich wusste, dass das Tor, das mir den Weg versperrt hatte, gesprengt worden war. Ab jetzt musste ich die Steine behauen."

Ausdrücklich ist die ausgezeichnete deutsche Übersetzung zu loben: Aharon Appelfelds Text gestaltet ja in sich schon einen mehrfachen sprachlichen Transformationsprozess, und es ist eine große Leistung der auch als Kinderbuchautorin bekannte Mirjam Pressler, diesen psychologisch und sprachlich ungemein präzisen Text so einfühlsam ins Deutsche rückgeführt zu haben.

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