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Den Schwalben zuschauen

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Vielleicht wur de uns so viel genommen, damit wir wieder einfach würden. Schade daß die Menschen dagegen solches Mißtrauen hegen, immer wieder „schlicht" mit „schlecht“ verwechseln. Sonst würden sie weniger Zeit an Beschäftigungen wenden, durch die sie die Zeit nur vertreiben. Sie würden sich ans Fenster setzen, die Ellbogen leicht aufstützen und den Schwalben zuschauen. Ein Fenster hat jeder zu Hause und die Schwalben kommen vom Himmel.

Den Schwalben zuschauen ist ein Genuß, der nur dem feinsinnigen Ertaster schwebender Stimmungen zuteil wird. Man muß das Mühlrad innerer Betriebsamkeit aus dem vorlaut plätschernden Wasser des Gedankenalltags herausheben, um aus dem seligen Spiel der Schwalben im blauen Äther etwas für sein weniger seliges Wandeln auf der mehr grauen Erde zu gewinnen. Die Hausschwalben, blauweiße Boten des Himmels, jagen über die Dächer der Dörfer hinweg, steigen vor bröckeligen Hintermauern wie Raketen empor, ganze Schwalbenbanden spielen in seraphischer Heiterkeit Haschen in der Luft. Wie Signale aus anderen Welten kl’ngen die langgezogenen, scharfen Rufe der dunkelbäuchigen, sichelflügligen und gabelschwänzigen Rauchschwalben. Manchmal stürzen sie sich über dem First, schillernde, schrillende Vogelkaskaden, senkrecht in die Tiefe. Dann schießen sie, gefiederten Pfeilen gleich, wie von der Sehne geschnellt, in den Ehinst der Ferne hinein. Oder sie fliegen hochoben, schön Wetter kündend, klein wie Mücken anzuschauen. Sie gleiten dahin, Kinder des Abendrots, wiegen sich auf den Wellen des Windes, steigen und fallen in der lichtgewobenen’Himmelsschaukel, schreiben unsichtbare Linien und Arabesken in den Glast der hohen Regionen, wo sie schon im Strahlenbereich kosmischer Verklärung zu weilen scheinen, ein Alphabet, kraus und rätselhaft wie die tuschgemalten Sinnbilder chinesischer Schriftzeichen.

Wer sich am weitesten in die Höhe wagt, muß am festesten in der Erde wurzeln. Die Schwalben gehören zu den wenigen Vögeln, die ihr Nest aus Lehm bauen oder, wie die Uferschwalben, aus der Erde selbst hervorkriechen. Ohne diese Bindung an die Stofflichkeit würden sie sich vielleicht eines Tages ins Goldmeer der Sonne hinaufstürzen, um nie mehr zurückzukehren. Die Gabe des herz- befreiendes Gesanges ist unter den Tieren nur den Vögeln geschenkt, die sich auch aus eigener Kraft über die Erde erheben können. Die Schwalben aber singen nicht, sie würden uns damit nur ablenken von ihrem schwebenden, spielerischen, kreisenden Flug. Sie singen fürs Auge, denn ihr Flug ist ihr Gesang.

Um ihn zu vernehmen, muß man die Seele stillmachen wie die Fläche eines Weihers im Walde. Dann mag sich die wandlungsvolle Notenschrift der Schwalben, die vielverschlungen ist wie die Lebenswege der Menschen, darin spiegeln, und wir fangen an, die Verwandtschaft alles Lebendigen empfinden, sie zu entziffern. Der Sinn aus der Höhe hat in den Wassern der Tiefe sein Bild gefunden. Mit hauchdünnen Konturen eingezeichnet und verschwommen erst wie hinter einer Milchglasscheibe, erkennen wir im Gleichnis den feineren Teil unseres eigenen Selbstes.

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