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Herbeigefürchtetes Unglück und Familiengeheimnisse in Joyce Carol Oates' Roman "Niagara".

Die 29-jährige Pfarrerstochter Ariah ist noch keine 24 Stunden Mrs Gilbert Erskine, da ist sie auch schon wieder Witwe. Ihr Mann, ein Reverend, stürzt sich am Tag nach der Hochzeit in Niagara Falls, der "Welthauptstadt aller Frischvermählten", in die tosenden Wasserfälle. Was von ihm übrig ist, gibt das Wasser erst eine Woche später wieder frei - eine Zeitspanne, in der Ariah als "die rothaarige Witwe von den Niagara Fällen" in die Annalen der Medien eingeht und mit ihrer stummen, sturen Totenwacht einen jungen lokalen Anwalt namens Dirk Burnaby so beeindruckt, dass dieser ihr wenig später einen Heiratsantrag macht.

Heile Welt

Man schreibt das Jahr 1950: Die Welt der wohlhabenden Weißen ist heil - zumindest nach außen hin. Die Frauen sind Hausfrauen und Mütter, die Männer treffen sich in Clubs und teilen die Pfründe untereinander auf. In den folgenden Jahrzehnten entwickelt sich die Gegend um die Nachbar-Städte Niagara Falls und Buffalo mit allen Vor- und Nachteilen zu einer Hochburg der Chemie-Industrie und des Massentourismus.

Dieses Biotop ist wie geschaffen für das scharfe Schreib-Skalpell der US-Autorin Joyce Carol Oates. Die fast 70-Jährige ist seit langem Expertin in der Ausleuchtung der Rand- und Schattenzonen des American Dream. Oates ist unvergleichlich gut darin, ihre Figuren zu sezieren und alles herauszuholen, was in ihnen an Schönem, Monströsem, Erbärmlichem und Verborgenem drinnen ist. In ihrem Roman Blond (2000) tat sie das mit der Figur Marilyn Monroes. Spätestens seit Monroe 1953 in Niagara zu sehen war, steht fest, dass sich die gischtige Kulisse der Wasserfälle ideal für mörderische Ehedramen eignet. Nicht zufällig heißt Oates' neuer Roman wie dieser Film. In ihm stellt sie die Konzepte von Familie, Ehe und Freundschaft auf den Prüfstand, und einen Mord gibt es auch.

Oates' Heldin Ariah ist intelligent und eigensinnig, eine ergebene Mutter und unwillige Gesellschaftsdame. Nach dem Selbstmord ihres ersten Mannes hält sie sich für verflucht. Ihre zweite Ehe mit Dirk Burnaby ist eine Liebesheirat, die voller Begeisterung beginnt. Drei Kinder kommen - sie dienen als Heilmittel für Ariahs krankhafte Verlustangst: "Jetzt kannst du mich wirklich nicht verlassen, Dirk, nicht wahr? Jetzt wo wir zwei haben", sagt sie angesichts der Geburt des zweiten Sohnes. Ihren Kindern begegnet sie als strafende oder streichelnde Despotin, in einer Mischung aus aufrichtiger, aber erstickender Liebe, launenhafter Willkür und moralischer Überlegenheit. In Ariah lehrt Oates einiges über herbeigefürchtetes Unglück. Ariah ist eine Meisterin in Sachen self-fulfilling prophecy. Sätze wie "Wir sind verflucht" oder "Du wirst mich betrügen und verlassen" bewahrheiten sich nach hunderten Wiederholungen - und sei es nur, weil Ariah alles im Sinn ihrer Vorahnungen deutet.

Mit dieser schwierigen Heldin, die weniger sympathisch als faszinierend ist, führt Oates auch vor, was in einer Familie passiert, in der über Jahre Geheimnisse schwelen. Denn Ariahs Mann, der sich als Anwalt für einen Umweltskandal ruiniert und seinen Freunden fürderhin als Verräter an der eigenen Klasse gilt, stirbt bei einem mysteriösen Unfall. Sein vom Highway abgedrängtes Auto stürzt - hier kehrt Oates' allgegenwärtiges Hintergrund-Motiv wieder - in den Niagara Fluss. Die nunmehr verarmte Ariah verordnet sich und ihren Kindern Redeverbot über den Toten, dessen berufliches Engagement sie nur als Verrat zu lesen imstande ist. Was bleibt, sind drei Kinder, an denen der Makel eines gesellschaftlich diskreditierten Vaters haftet, über den sie nichts wissen dürfen und doch vieles ahnen.

Unheimliche Momente

Oates' Erzählung wechselt mehrmals die Perspektive. Kapitelweise rückt sie den einen, dann den anderen ins Zentrum. Das ist aufregend und macht aus ihrer Geschichte schon allein strukturell ein ungewöhnlich vielschichtiges Gewebe. Die Wasserfälle bleiben in ihrer Symbolhaftigkeit omnipräsent: Die gewaltsame, gleichgültige Kraft des Wassers entspricht dem Strom der Geschehnisse, der Oates' Figuren schindet, vor sich hertreibt, verletzt und verändert. Er steht aber auch für befreiende Entwicklungen.

Es wäre nicht Oates, wenn es in Niagara nicht auch unheimliche Momente gäbe: Augenblicke, in denen der Alltag dauerhaft ins Gruselige zu kippen droht. Denn gerade die vermeintlich durchschnittliche Mittelstandsfamilie trägt bei Joyce Carol Oates jederzeit den Keim eines Horrorschockers in sich.

Niagara

Roman von Joyce Carol Oates

Deutsch v. Silvia Morawetz

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2007

567 Seiten, geb., € 20,30

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