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Glockensage

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So fängt die Glockensage 1942 an.

Einmal waren es über hunderttausend. Uber 100.000 Glocken aus Deutschland, Österreich, Belgien, Holland, Polen, Jugoslawien, die im Katastrophenwinter 1942 die Reise nach Hamburg antraten. Es war ein harter Weg. Viele von ihnen traf es schon während des Transports: sie kamen nur als Bruch bei der unersättlichen Hamburger Riesensammelstelle an. Schlechte Lagerung und der Bombentod vernichteten einen weiteren Teil. Ein Schiff, das Glocken zu einem Ausweich- platz bringen sollte, versank mit der kostbaren Fracht in den Fluten. Tausende andere kamen in die Schmelzöfen, tausende wurden nur mehr zerschlagen und verdarben die Jahre über auf dem Hamburger Glockenfriedhof, wie ihn Gläubige und Gottferne in einmütigem Grauen nannten. 350 blieben 1944 auf dem Weg nach Hamburg in Oranienburg bei Berlin stecken und wurden im Oktober 1947 von der Besatzungsmacht für ein Befreiungsdenkmal eingeschmolzen.,.

Und so berichtet die Glockensage 1945: Gleich nach Kriegsende versuchten Ordinariate, Pfarrämter und Gemeinden, das Schicksal ihrer Glocken aufzuklären. Das Büro in Hamburg war bereit, suchte und sichtete, begutachtete und kartierte. Die erste Übersicht war niederschmetternd: von den über 100.000 waren nur mehr 16.974 Glocken übriggeblieben. Ihre Besitzer mußten nun in zeitraubender Büro- und Fachmannarbeit ausgeforscht werden. Von 1947 an endlich konnten die auf diese Art einwandfrei identifizierten Glocken die Heimreise antreten. Auch in Österreich gelangten bis 1951 etwa 80 Glocken an ihre Heimatplätze.

Nun blieben nur noch die Glocken aus den Kirchen jenseits der Oder-Neiße-Linie zurück. Für sie verfügte die Rückführungskommission, daß sie leihweise an die — vorwiegend bayrischen — Gemeinden mit den meisten Flüchtlingen der Ursprungsgemeinde abgegeben werden können — mit der verpflichtenden Unterschrift freilich, daß sie bei einer möglichen Neugründung der Ursprungsgemeinde wieder abgegeben werden müssen. Da es sich dabei vorwiegend um Glocken evangelischer Kirchen handelt, trat das katholische Ordinariat München- Freising von dem Angebot zurück und überließ damit dem evangelischen Landeskirchenrat zur Gänze die Patenschaft dieser Glocken.

So kam es, daß am 16. März dieses Jahres, am siebenten Jahrestag der Zerstörung Würzburgs, vom Turm der wiederaufgebauten Würzburger Stephanskirche zum erstenmal zwei schlesische Glocken aus Glogau und Bunzlau in bayrischem Land erklangen. In jeder Woche werden es mehr, und bald wird man von den evangelischen bayrischen Kirchen 46 schlesische, 17 pommerische und 3 ostpreußische Glocken hören. Für tausende Menschen bedeutet ihr Klang einen bewegenden Gruß aus der Heimat.

Die größte Freude aber wird der Flüchtlingspfarrer der evangelischen Kirche „Zum Kreuz Christi in Eschen- bach haben, denn ihm ist es vergönnt, für seine Kirche zwei Glocken aus seiner Heimatgemeinde Lauban in Schlesien in Empfang zu nehmen. Sechs Jahre lang hat er nach ihnen gesucht, jetzt sind sie auf dem Weg zu ihm rnd seiner neuen Gemeinde. Wenn sie ihre Stimme erheben, werden Leid und Freude der Gequälten — aber auch ihre verlorene und ihre ewige Heimat friedsam, bedeutsam zusammenklingen.

So endet die Glockensage 1952.

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