Kein Trost. Nirgends.

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Frühe Kurztexte von Agota Kristof.

In Agota Kristofs Texten tragen Orte und Landschaften keine Namen. Jemand fährt "bis zur Hauptstadt" oder "zu dieser großen Industriestadt", lebt in einem "Dorf an der Grenze" oder "in der kleinen Stadt". Die Menschen, die sich in diesen namenlosen Umgebungen bewegen, sind eher Chiffren als Individuen: "das Kind", "der Sohn", "die junge Frau", "die Eltern", "der Vater".

Die grausame Gleichgültigkeit der Welt lässt keinen Platz für die geglückte Entfaltung und Menschwerdung des Einzelnen. Stattdessen formt er sich aus geschlagenen Wunden. Manchmal gibt es in Kristofs Geschichten auch ein "Ich", das aus so radikaler Innensicht erzählt, dass Wahnsinn, Alptraum, Einsamkeit, Trauer und Heimatlosigkeit noch viel bruchloser auf den Leser überspringen.

Agota Kristof zu lesen, ist anstrengend, weil ihr Schreiben seit jeher ohne Hoffnung ist. Die Heimatlosigkeit der 1935 in Ungarn geborenen, 1956 in die Schweiz geflohenen Schriftstellerin, die auf Französisch schreibt, durchtränkt beinahe jeden ihrer Sätze mit einem tiefen, trostlosen, oft sarkastischen Pessimismus.

Kristof reiht kurze, harte Hauptsätze aneinander. Es ist eine in ihrer Radikalität zwingende Sprache, die von einer kalten Welt und niedergewalzten Sehnsüchten erzählt, von Leben, die oft schon in der Kindheit zerbrechen und sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Wenn da einer Trost findet, dann nicht in einem anderen Menschen, höchstens in einem Gebäude oder den Straßen einer Stadt, die er Tag für Tag einsam und fast zwanghaft bis zur Erschöpfung abwandern muss wie jener junge Musiker in ihrem Kurztext "Die Straßen": Er ist "ein Voyeur der Häuser", die Menschen in den Häusern interessieren ihn nicht - "nur die Häuser und die Straßen".

Scharfer Ton

Zwei Dutzend solcher kurzer Texte - zumeist kaum mehr als vier bis sechs Seiten lang -, die Kristof in den Jahren nach ihrer Flucht aus Ungarn geschrieben hat, sind unter dem Titel Irgendwo als Buch erschienen. Sie ergänzen ein knappes, extrem verdichtetes Werk, dessen Kernstück die berühmte, quälend-faszinierende Kurzroman-Trilogie Das große Heft, Die dritte Lüge und Der Beweis ist, in der Kristof die grausamen und gewaltgeprägten Lebensgeschichten von Zwillingsbrüdern erzählt.

Die jetzt veröffentlichten Kurztexte sind noch davor entstanden. In ihnen sind die lebensfeindliche Atmosphäre und der scharfe Ton der Amoral, der Kristof so berühmt gemacht hat, bereits vorgegeben: Die Leben der Figuren sind wie das Schreiben der Autorin selbst nur als Frage des nackten Überlebens zu verstehen. In Irgendwo finden sich halluzinatorische Alptraum-Aufzeichnungen. Oder eine spöttische, in ihrer Plakativität fast platte Satire auf die vermeintliche Ruhe des Landlebens, das sich durch neu gebaute Autobahnen oder Industrieanlagen als Anti-Idylle entlarvt. Es gibt Innenansichten von, dem Wahnsinn anheimgegebenen Ehefrauen oder vereinsamten Familienvätern, phantasierte Glücksbilder von Alleingelassenen ("Morgen wird es dieses Zuhause endlich geben"), traurige Berichte über das Warten auf Briefe oder Anrufe, die nie kommen und wenn sie es doch tun, die falschen sind, oder brutale Schlaglichter auf die Kampfzone Familie.

Immer das Schlimmste

All das ist schwer zu verkraften, weil Kristof immer das Schlimmste andeutet - ein Bruder missbraucht seine Schwester (Meine Schwester Line, mein Bruder Lanoé) oder ein Mann missbraucht seine junge Frau, während es seine Mutter vorzieht, das längst durchschaute Elend zum Familienglück zu Dritt umzuleugnen (Die Mutter): "Manchmal, wenn ihr Sohn nicht da war und die beiden Frauen ihre Mahlzeit allein einnahmen, begegneten ihre Augen den traurigen, dunkel umrandeten Augen des Mädchens, das bei ihr wohnte. Dann senkte sie den Blick und murmelte, während sie mit einer Kugel aus Brotteig herumspielte:, Er ist ein guter Junge. Ein netter Junge.' Die junge Frau faltete ihre Serviette zusammen - sie war gut erzogen - und verließ die Küche."

So klingt aussichtslose Verzweiflung bei Agota Kristof. Trost gibt es nirgends - höchstens im Wahn, im erlösenden Mord oder in der Fantasie -, und die Menschen bringen einander Schmerz und Gewalt. Aneinandergekettet durch Gewalterfahrungen, Abhängigkeiten und Ausweglosigkeit sind echte Bindungen zwischen ihnen nicht möglich.

Irgendwo

Nouvelles von Agota Kristof

Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg.

Piper Verlag, München 2007

121 Seiten, geb., € 15,40

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