Keine Ruhe in der Truhe

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Eigenwillige Re-Lektüren der Grimm'schen Märchen von Lisa Spalt. Lesend vergeht einem Hören und Sehen.

Dass die Märchen der Gebrüder Grimm in der Kinderwelt von heute unverloren sind, hat zu einem guten Teil mit dem Hörbuch zu tun. Es ist gar nicht so selten, dass ein neues Medium die Bewahrung der Tradition übernimmt. Auch die 1970 geborene Vorarlberger Autorin Lisa Spalt ist den alten Geschichten im Medium der Märchenkassette begegnet und hat nun unter dem Titel "Grimms" ihre eigenwilligen Re-Lektüren zu einem Textteppich verwoben, der aufhorchen lässt.

Sie nimmt Rapunzel und die sieben Geißlein, den Froschkönig und Schneewittchen, mixt antike Mythen und Klassikerzitate, psychologische Interpretationen, "Werbe-Fairy Tales", Sprachhülsen der Schönheitsindustrie und Managementtheorie dazu und lässt das ganze mit assoziativer Sorglosigkeit und einem scharfen Gehör für die Untertöne durcheinander wirbeln, dass einem lesend Hören und Sehen vergeht.

König präparieren

"Darum könnte es gehen: Den zwielichtigen König der Unterwelt zu präparieren, dass er endlich nach ihrem Willen begehre. Wäre dies ein Muster des Fäden Ziehens im Kollern der Perlen der Bilderkette? Die Webmanschette des - jedes Stützgewebes ermangelnden - Textes?", fragt die Autorin den überforderten Leser, der trotzdem genügend Fadenenden findet, die das Labyrinth begehbar machen. Und will er aufgeben, ist schon der warnende Zeitgeistfinger der Autorin da: "Denken sie daran: Nutzung von Synergien, sparsamer Einsatz der Mittel. Systematisierung der Themenkomplexe! Das ist Systemgastronomie. Das sind die Produktionsgesetze einer ökonomischen und daher zeitgemäßen Entwicklungserzählung."

Gewaltsam aktualisiert

Lisa Spalt spießt diese "Produktionsgesetze" auf und lässt sie in alle Richtungen kippen, denn "das Hohe kommt vom Hohlen". Zum Gegensteuern gibt's die Autorin: "Psychokompetenz angeboren, Kenntnis anthropologischer und volkskundlicher prrrt und natürlich ganz klar ein schmäcks", und so geht sie beherzt ans Dekomponieren und "Schürzen der Beziehungs-Knoten".

Die Grimm'schen Basisfiguren und -motive tauchen immer wieder auf, wild zusammengewürfelt, schräg angeschnitten und gewaltsam aktualisiert. Schneewittchens Stiefmutter vor dem Spiegelorakel hat es heute leichter mit der Schönheit aus "Phiole … Tiegel … und Chirurgenhand", Rapunzels Paradiesgärtlein, die Turmeroberungs-Metapher und die Abtreibungsfrage sind nach wie vor aktuell, der Hungerwolf der sieben Geißlein mag anderswo sein Unwesen treiben, aber durchaus von hier ist das "Zärteln des Vaters" mit der Jüngsten, der dann die "Dosierkugel" in den Brunnen fällt, die Meister Frosch proper herausholt.

Aus der kühnen "Neu-Verflechtung der Märchen-Daten" bastelt Lisa Spalt topaktuelle Variationen auf "Paarungs-Harmonie", fortgesetzte Elternverfehlungen und das "kulturbildende Gewissen", wie es als Sack voller Steine im Bauch des kulturlosen Wolfes wackert. Lisa Spalt hat ein produktives "Elsternverhalten", dem, so die Autorin, Dichtende und Lesende immer verfallen sind, und sie enttarnt die "manipulierende Attraktivität jedes glänzenden Schmucks der Rede". Die "idiomatische Ruhe der Truhe" jedenfalls hält selten länger als eine Zeile, schon bleibt "vom siebten Himmel nur noch das Septett von Hummel".

Roh und brachial

Natürlich könnte man jetzt ein großes Autorinnen-Vorbild herbei zitieren, das die präzis kalkulierte Abschweifung mittels Kalauer mit unvergleichlicher Meisterschaft beherrscht. Aber Lisa Spalt ist, wiewohl reichlich ungestüm, offenbar dabei, eine ganz eigene Textteppichmanufaktur aufzubauen. Das Rohe und Brachiale machen die Lektüre nicht unbedingt leichter, aber spannend allemal.

Grimms

Von Lisa Spalt

Ritter Verlag, Klagenfurt 2007

119 Seiten, brosch., € 13,90

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