Koordinatensystem aus Worten

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Thomas Stangls Debüt "Der einzige Ort" ist ein sprachliches Ereignis. Er erhält dafür den aspekte-Literaturpreis 2004.

Ein dichter Text, voller sprachlicher Ereignisse, getragen von beeindruckender stilistischer Sicherheit und Konsequenz, das ist Thomas Stangls erster Roman "Der einzige Ort". Eine Reise aus Wörtern und Sätzen, die an viele Orte führt - nach Tripolis, nach Tiémé oder nach Djenné, die schließlich die Protagonisten des Romans bis nach Timbuktu begleiten wird, und eine Reise, die um die Unmöglichkeit weiß, sich der Wirklichkeit allein verschreiben zu wollen, die im Letzten auf ein "Anderswo" ausgerichtet ist, auf den nie und zugleich immer schon erreichten einzigen Ort.

Zur historisch verbürgten Vorgeschichte: Unabhängig voneinander brechen in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zwei Forscher, Alexander Gordon Laing und René Caillié, auf - von Tripolis aus der Engländer, von Sierra Leone aus der Franzose - mit dem Ziel, die noch von keinem Europäer betretene Stadt Timbuktu zu erreichen. Timbuktu beflügelt die europäischen Phantasien nicht zuletzt in Zusammenhang mit dem kolonialen Interesse am Verlauf des Niger, der "als künftige Hauptverkehrsader und Schlüssel zu sagenhaften Reichtümern gilt". Während Laing über eine zumindest halbherzige Unterstützung seiner Expedition von Regierungsseite verfügt, reist Caillié allein, ohne Auftrag und in der Tarnung einer arabischen Identität. Beide erreichen Timbuktu. Auf der Rückreise wird Laing getötet, Caillié schafft es zurück und kann von seinen Erfahrungen berichten.

Stangl hat die historischen Quellen gründlich studiert, Cailliés Texte übersetzt - seine Vorstellungskraft scheint gleichermaßen von den vorhandenen wie den verschwundenen oder nie geschaffenen Zeugnissen angeregt worden zu sein: "ein Heraustreten der Blicke oder Gedanken aus der Zeit, als könnte man getrost den Verrat begehen, die Erinnerung erfinden, in einer neuen, dichten Atmosphäre, in einem Leuchten {...}." Sein Roman wächst aus den Lücken der Überlieferung. Ungemein detailliert ist die Phantasie, mit der er die Erinnerung an die Reisen der beiden Männer erfindet, arabesk die Form seiner Sprache. Lange, vielfältig interpunktierte Sätze spiegeln nicht nur die Umwege, Unterbrechungen und Stockungen der Expedition, sie brechen auch die Lesegeschwindigkeit, brauchen Zeit. Innerhalb eines Satzgebildes wechseln Blickrichtung und Fluchtpunkte, von Satz zu Satz ändern sich Perspektiven bzw. der Standort des Erzählers - außen/innen, Nähe/Ferne, Afrika/Europa, Himmel/Erde - ein Netz von Koordinaten, das die Welt so dicht einzufangen versteht, wie man es lange nicht gelesen hat: "Westlich der in der Form eines Dreiecks angelegten Stadt dehnt sich über mehr als eine Meile ein riesiges Gräberfeld aus, hier verbringt er viele Stunden. Er vergißt auf die Hitze, er ist allein und doch nicht allein, unter einem wolkenlosen, weiten Himmel {...}. Die Grabstätten, die sich scheinbar endlos aneinanderreihen, sind weder pompös wie die Gräber der Reichen auf den europäischen Friedhöfen noch vernachlässigt {...}, die Hinterbliebenen, egal welchen Standes, kehren immer wieder zu ihren Toten zurück, um Steinhügel aufzuschlichten, Pflänzchen zu säen, kleine Gefäße mit Wasser aufzustellen, an denen die Vögel sich tränken {...}."

Nicht die zielgerichtete Bewegung im Raum steht im Mittelpunkt des Romans, sondern vielmehr der Stillstand, das Nicht-Ankommen.

Die Wirklichkeit der Orte bricht in die Vorstellungen über sie ein wie die Realität des Todes in das Leben. Sowohl Laing als auch Caillié erkranken schwer. Mit beinahe erschreckender Intensität schildert Stangl ihre Wunden, Schmerzen, Fieberträume. Expedire, den Fuß aus Fesseln befreien - in der Reise zum "einzigen Ort" geschieht das in einer Art von unausgesetzter Agonie. Orte, Menschen, sie sind alle nur da, um ersetzt zu werden. Gehen, bleiben, sehen, vergessen, erinnern, erzählen, verschweigen, weitergehen - mehr scheint nicht möglich und doch: "Einzelheiten sind herauszustreichen, Lügen, die wie Wahrheiten auftreten, Wahrheiten in der Gestalt von Lügen; auf der Suche nach einem Dritten, Ortlosen."

Der einzige Ort

Von Thomas Stangl

Literaturverlag Droschl, Graz 2004

405 Seiten, geb, Euro 25,-

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