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Realitatsverluste

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GESPENSTER FÜR DEN ALLTAG. Geschichten von Karel Michal. Aus dem Tschechischen von Marianne Pasetti-Swoboda. 96 Seiten, broschiert, DM 7.80. — KRIEGERDENKMAL GANZ HINTEN. Prosa von Guntram Vesper. 100 Seiten, broschiert, DM 5.80. Beide im Verlag Carl Hanser, München.

Was bedeutet Realität für einen modernen Erzähler? Etwa ein feststehendes sprachliches und sachliches Gefüge, in welches sich die Erfahrungen des Irrealen einbauen lassen. Die Realität muß dabei so tragfähig sein, daß die Geschichte nicht zusammenbricht. Prosa, die nach solchen durchaus zu akzeptierenden Überlegungen gestaltet ist, erkennt man an einem verhältnismäßig konservativen Einstand. Erst wenn der Leser nach des Autors Meinung lange genug auf der festen Startbahn war, wird er abgehoben, plötzlich mit einem Ruck oder allmählich, so daß er's kaum merkt. Das Vehikel der Erzählung gewährt mehr oder weniger Startkomfort.

Ein Trick, gewiß! Nicht ganz ehrlich, nicht einheitlich. Darüber ist zu diskutieren. Nicht abzustreiten ist, daß die Methode das praktische Leben zum Modell hat. Die Erfahrung zeigt Realitätsverluste meistens erst nach einer Anlaufstrecke, auf der man sich sicher auf festem Boden wähnte. Je sicherer und spürbarer der Bodenkontakt, desto verführerischer! Karel Michal hat es darauf angelegt. Wenn einer die Realität mit Gespenstern verliert und noch dazu aus Prag kommt, dann hält ihn jeder Kreuzworträtsellöser für einen Re-serve-Meyrinck. Purer Zufall kann's ja auch nicht sein, daß der Spuk in der Goldenen Stadt nicht aufhört. Das Hausgespenst verpflichtet. Michal geht dann durchaus eigene Wege, baut sein Realitätengestell bei hellichtem Tage auf, nicht umsonst ist die Pointe da. Saubere Bescherung, schon wieder ein Gespenst! Man wird es mitunter als das eigene oder das kollektive Gewissen erkennen. Unangenehm ist es auf jeden Fall. Es wäre unfair und nicht im Sinn des Erfinders, sich bloß mit einem angenehmen Gruseln aus der Affäre zu ziehen.

Guntram Vespers Prosa läßt sich als Einübung in größere Formen erkennen — und erhoffen. Realität wird hier oft mit Montagen erzeugt, mit Idylle und Bericht im Stil des Bauernkalenders und der schulmeisterlichen Belehrung. Den Ansatz im Provinzmilieu hat Vesper mit Thomas Bernhard gemeinsam. Der Abzug der Realität erfolgt allmählich. Der Punkt, an dem die Ebenen wechseln, ist nicht genau anzugeben. Manchmal resultiert er einfach nur dadurch, daß sich die harmlose Ab-schilderung verdichtet uhd verdichtet und auf einmal überschlägt. Die Ambivalenz ist so überzeugend, daß das Irreale zur Realität wird. Die Vernunft und Konsequenz, die angeblich das Denken und Handeln des Menschen bestimmen, gibt es gar nicht. Trotzdem hat man nie das Gefühl der Übertreibung. Es ist erfreulich, mitzuerleben wie Vesper — Jahrgang 1941 — Charaktere und Vorgänge in den Griff bekommt. Schulterklopfen ist zwecklos. Aber ich setze auf den Mann. Realitätsverlust einkalkuliert.

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