Ronya Othmann: „Du darfst nie vergessen, dass du Kurdin bist“

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Ronya Othmanns Debütroman „Die Sommer“ dringt tief in die Geschichte der Kurden ein und gibt dem jesidischen Volk eine Stimme.

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Ronya Othmanns Debütroman „Die Sommer“ dringt tief in die Geschichte der Kurden ein und gibt dem jesidischen Volk eine Stimme.

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Ihre Sommer verbringt Leyla seit ihrer Kindheit in Tel Khatoun, einem kleinen Dorf zwischen Tirbespi und Rmelan im Norden Syriens. Es ist der Heimatort ihres Vaters, aus dem er einst aus politischen Gründen nach Deutschland geflohen ist. Sonst lebt Leyla in München, wo sie ein Gymnasium besucht. Ihre Mutter ist Deutsche, der Vater Kurde.

Ronya Othmann, eine deutsche Autorin und Journalistin mit kurdischen Wurzeln, hat 2019 in Klagenfurt bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur den Publikumspreis gewonnen. Mit einem Text über den „Genozid an den Jesiden“ hat sie auf sich aufmerksam gemacht. „Die Sommer“, ihr im Hanser-Verlag erschienener Debütroman, dringt aus der Perspektive des Mädchens Leyla tief in die Geschichte des kurdischen Volkes ein. Im Brennpunkt steht das Leben einer staatenlosen ethnischen Minderheit, die permanent unter Bedrohung, Verfolgung und politischer Repression zu leiden hat. In einem Interview erwidert Othmann auf die Frage, ob der Roman auch autobiografisch zu lesen sei, dass sie als Kind immer dort gewesen sei. Sie erzähle zwar von etwas, das sie kenne, aber sie habe nicht von sich geschrieben.

In diesem mehrdimensional erzählten Roman setzt sich Leyla auf vielschichtige Weise mit der Kultur und Geschichte der Kurden auseinander. Schon früh spürt sie die Ambivalenz hinsichtlich der Dazugehörigkeit: „Du bist keine Ezidin, denn dein Vater hat eine Deutsche geheiratet.“ Aber ihre geliebte, bewunderte Großmutter schärft ihr immer wieder ein: „Du darfst nie vergessen, dass du Kurdin bist!“ Leyla erzählt aus dem Rückblick, und das Gehen wird plötzlich zum Leitmotiv. Schmerzlich wird ihr bewusst, dass sie alles fotografieren hätte sollen, „damit nichts jemals verloren gehen“ hätte können. Wie wertvoll wäre heute wohl ein Foto von Aleppo? Im Nach hinein mutet alles irreal an, auch das Bewusstsein, dass sie nie mehr wieder hierherkommen könne.

Als der IS in diese Gegend eindringt und Schreckensbilder vom Genozid über die Medien in die Welt gespült werden, wird die Verzweiflung ihrer Familie in Deutschland fast unerträglich. Gefühle der Ohnmacht machen sich breit, weil man nur zusehen, nicht helfen kann und sich auch politisch im Stich gelassen fühlt. Es bleibt das Bangen um die Verwandten, verwoben mit der Angst, sie niemals wiedersehen zu können. Irgendwann gelingt es, Familienmitglieder nach Deutschland zu holen. Nach wechselvollen Ereignissen erfährt Leyla von der Geschichte ihres Vaters und den Hintergründen seiner Flucht. Er fleht sie geradezu an, diesen Teil ihrer Heimat und ihre Herkunft nie zu vergessen, sich ihrer stets zu versichern.

Mit diesem aktuellen Roman gibt Ronya Othmann dem jesidischen Volk eine Stimme. Sie hat die politischen Konflikte penibel recherchiert und schreibt entlang der Hoffnung auf Heimat, entlang des Leids und der Gewalt gegen Vergessen und Verstummen an. Die Auswirkungen des Genozids und die damit verbundenen Traumata sind noch lange nicht aufgearbeitet. Die Sehnsucht nach einem freien Syrien bleibt.

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