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T. C. Boyle rückt in seinem Roman über Sexforscher Alfred Kinsey die sexuelle Befreiung in ein ambivalentes Licht.

Welch ein Zufall! Der Film von Bill Condon (siehe Besprechung Seite 17) holt den ohnehin nie vergessenen Sexforscher Alfred Kinsey wieder in Erinnerung und der Schriftsteller T. C. Boyle widmet ihm zeitgleich seinen zehnten Roman.

Ein Roman über eine historische Person erlaubt viel Freiheit, erlaubt es dem Autor, zu den Fakten die Fiktion hinzuzuziehen. In diesem Fall könnte als Ausgangspunkt die Frage gestanden haben: Wie wäre es einem Mitarbeiter von diesem Sexforscher ergangen? John Milk heißt die Antwort auf diese Frage, die Erfindung des Autors, er ist ein richtiges Milchbübchen, wie der Name schon sagt.

Milk beginnt am Tag der Beerdigung von Professor Kinsey die Begegnung, die Arbeit, die vergangenen Jahre mit ihm niederzuschreiben. Die Perspektive eines berichtenden "Jüngers", vom Guru stark beeindruckt und beeinflusst und doch irgendwie auch schockiert, kennt man: War nicht auch Serenus Zeitblom eine solche Figur? Sie erlaubte Thomas Mann in seinem "Doktor Faustus" die Möglichkeit der "Durchheiterung" des Stoffes - und das nötige Gewürz Ironie bietet auch die naive, abhängige Figur des John Milk für Boyles fiktive Biografie über den berühmten Sexforscher.

Verfallen und abhängig

Milk - und mit ihm der gesamte innere Kreis von sorgfältig ausgewählten engsten Mitarbeitern - scheint diesem Dr. Sex verfallen zu sein, von ihm abhängig, sowohl in sexueller wie beruflicher wie schließlich auch finanzieller Hinsicht. Dieser innere Kreis ist es, der im Mittelpunkt des Romans steht, weswegen der deutsche Titel "Dr. Sex" unpassender erscheint als der englische "The Inner Circle". Oder sollte der Verlag tatsächlich an Doktor Faustus gedacht haben?

Auch wenn es keinen dezidierten Pakt mit dem Bösen gibt: moralische Kriterien werden ausgespart in der wissenschaftlichen Arbeit des Dr. Kinsey. Er ist allein an der genauen Taxonomie sexueller Praktiken von Männern und Frauen interessiert, die beobachtet werden, als wären sie Tiere. Da gibt es keine moralischen Schranken, auch nicht bei der Auswahl der interessanten Objekte, die dann und wann sogar zur Kategorie "Verbrecher" gehören, wie etwa Pädophile. Aber solche Kategorien gibt es für Kinsey eben nicht, auch nicht Worte oder Werte wie Treue oder Liebe.

Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, Boyle würde den Sexforscher in seinen Beschreibungen über die vielen Reisen, Interviews und die absonderlichsten Untersuchungen und Verfilmungen menschlicher Sexualakte im Dienste der Wissenschaft moralisch vernichten. Der Roman-Routinier bleibt gekonnt in der gewählten Perspektive des Ich-Erzählers und erlaubt sich nur dort Zweifel, wo auch John Milk welche kommen, vor allem angestoßen durch das Verhalten seiner Frau. Denn Iris Milk ist die einzige, die den Ausbruch aus dem Bannkreis des Gurus zumindest teilweise schafft, sie hat den Verstand und vor allem das Gefühl dafür ...

Der Forscher selbst erscheint sehr ambivalent: einerseits praktiziert er die völlige sexuelle Freizügigkeit, andererseits ist er unglaublich asketisch, was Alkohol und Rauchen betrifft. Egomanisch und besessen von seiner Idee blendet er alles andere aus - so spielt etwa im gesamten Roman, der in den 40er Jahren spielt, bezeichnenderweise der Krieg kaum eine Rolle. Kinsey wendet seinen Leitsatz "Sie haben drei Jahrtausende Zeit gehabt, sich über die Liebe zu verbreiten - jetzt sollen sie mal der Wissenschaft eine Chance geben." brutal auf die Lebens- und Liebesbedingungen seines inneren Kreises an.

Befreiung und Zwang

Das ungenierte Sprechen über Sexualität, über Probleme, Ängste, Abnormalitäten - diese Befreiung war dringend nötig. Sie stieß auf starken öffentlichen Widerstand und wurde in viel Heuchelei gebettet, so durfte Kinsey seine Aufklärung nur in "Ehekursen" weitergeben, für die sich neugierige Studenten zum Schein als verlobt ausgaben.

Die Befreiung wird als solche erlebt, doch in Boyles Roman wird sie auch zum Zwang. Denn "Prok", wie John Milk Professor Kinsey nennt, fordert totales Engagement von Seiten seiner Mitarbeiter, keiner darf verklemmt ("sex shy") sein, auch die jeweiligen Partner nicht, denn das würde dem Projekt und den Prinzipien Schaden zufügen. Also kann und muss jeder mit jedem ...

Die menschliche Sexualität als rein zoologisches Phänomen, das der Mensch als ein Säugetier unter anderen, losgelöst von jedem Gefühl, mechanisch vollzieht? T. C. Boyle lotet in seinem Roman die Möglichkeiten aus, dieser Auffassung gemäß zu leben, weist sie letztendlich aber in ihre Grenzen.

Dr. Sex

Roman von T. C. Boyle. Aus dem Amerikan. v. Dirk van Gunsteren

Hanser, München 2005

468 Seiten, geb., e 25,60

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