Über den Gebrauch des Lächelns

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Ein neuer melancholisch-heiterer Roman von Jürg Schubiger, hintergründiger, als es auf den ersten Blick scheint.

Die Jahre und Begebenheiten hatten damals noch den Schwung einer beginnenden Biografie. Etwas Zusammenhängendes hätte daraus werden können. Bei den späteren Lebensstücken dagegen zweifelt man, ob sie jemals eine Sache mit Hand und Fuss ergeben würden … Ein paar Atemzüge vor dem Tod würden die Teile sich vielleicht wie von selbst zu einem fraglosen Ganzen zusammenschliessen. Dann würde zu erkennen sein, dachte L., was mit diesem Leben gemeint war.“

Bis zu den allerletzten Seiten fügen sich für L. („El, von Laetizia“), die Protagonistin in Jürg Schubigers präziser Charakterstudie einer jungen Frau, jene Lebensstücke aber keineswegs zu etwas zusammen. Sie bleibt zurückgezogen auf die Position der Beobachterin des eigenen Lebens, des Wetters und der Wolken, deren „vorüberziehendes Durcheinander“ leitmotivisch den Text durchzieht. Von einem Lawinenunglück abgesehen, in dessen Folge sie ihr Meteorologiestudium abbrechen muss, verläuft L.s Leben unbehelligt von größeren Erschütterungen, alle zwischenmenschlichen Kontakte bleiben peripher, jene titelgebende „kleine“ Liebesbeziehung endet so unspektakulär, wie sie begonnen hat: mit einem Teefleck am Teppich.

„Manchmal glaubte sie, nicht richtig begriffen zu haben, wie man leben sollte, Tag um Tag, mit anderen und mit sich selbst. Was wann zu tun, zu unterlassen, zu sagen war.“ Diese Distanziertheit zu sich selbst und ihrer Umwelt gelingt es Jürg Schubiger mittels eines klugen Kunstgriffes überzeugend darzustellen: Zahlreiche Situationen und Episoden werden anhand von Familienfotos und Schnappschüssen in Rückschau rekonstruiert. Immer mit am Bild eine etwas linkische L., streng und ein wenig komisch. Bloß das allerletzte Foto – ein Passfoto! – hat im Text eine andere Funktion und weist in die Zukunft.

L. zeigt kaum je Emotionen, ihrer Vorliebe für klare Strukturen und Zeitabläufe legt eine leichte autistische Wahrnehmungsstörung nahe. Die zunehmende Entfremdung und Trennung der Eltern etwa wird von L. registriert und schmerzt als Bruch einer Kontinuität. Und auf die Frage der Tante, ob L. „nicht auch ein Instrument spielen möchte“, gibt L. die Bartleby’sche Antwort: „Nein, lieber nicht.“

Bloß zweimal werden Momente reinen Glücks geschildert: Einmal während L.s Praktikum an einem Lawineninstitut – allein im Schnee: „ein Schneehuhngefühl, … die Ferne reicht einem bis an die Haut“ – und einmal während des Besuches einer Ausstellung der amerikanischen abstrakten Expressionistin Agnes Martin: „L., die sich bisher kaum um Kunst gekümmert hatte, war auf so viel Schönheit oder Richtigkeit nicht gefasst gewesen. Sie spürte die Freude wie einen Riss hinter dem Brustbein. Nichts als gerade Linien. Als hätte an einem klaren Tag ein blitzgescheites Kind das Schulheft erfunden.“ („On a Clear Day“ nennt sich auch der bekannteste Werkzyklus der 2004 verstorbenen Künstlerin Agnes Martin.) Diese Begegnung hilft L. letztlich auch, über ihren Schatten zu springen und einen aktiven Schritt zu setzen …

Dem Schweizer Autor Jürg Schubiger ist nach „Haller und Helen“ wieder ein überzeugender, melancholisch-heiterer Roman gelungen, der sich als weit hintergründiger erweist, als es auf den ersten Blick scheint. Die spröde und unnahbare L. erweist sich auch als präzise Beobachterin gesellschaftlicher Konventionen und ermöglicht dem Leser somit eine ungewöhnliche Perspektive auf scheinbar Alltägliches, wie etwa „den Gebrauch des Lächelns“ in der Straßenbahn.

EINE KLEINE LIEBE

Roman von Jürg Schubiger

Haymon, Innsbruck 2008

124 Seiten, geb., € 14,90

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