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Aus Jen Theologumena

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Wir sind nicht mehr oder weniger Eigentümer unseres Ichs als etwa der Abonnent einer Leihbibliothek der Eigentümer des von ihm geborgten Buches ist. Alle moralischen Forderungen, die sich auf unser eigenes Ego beziehen, wurzeln gleichnisweise in der Verpflichtung jenes Abonnenten, das entliehene Buch in würdigem Zustand, ohne Schmutzflecken, Löcher, fehlende Seiten und mit möglichst wenig Eselsohren nach Ablauf der Frist zurückzustellen.

Ich habe das sonderbar süße Lächeln des Schwerverwundeten aus meiner Kriegszeit nicht vergessen. Der tötliche Schuß legte auf dem Gesicht eines seellosen Rohlings plötzlich eine kindlich holde Innerlichkeit bloß, die hinter den hundert Höllen der Brutalität und Gewöhnlichkeit geschlummert haben mußte. Der Gottmensch trat zwischen den zerreißenden Wolken des Sterbens hervor.

Es gibt Menschen, die immer die Gebenden sein möchten und es niemals zustande bringen, die Nehmenden zu sein. Diese Unfähigkeit, zu nehmen, ist vielleicht der verletzendste menschliche Hochmut. Selbstverständlich ist Geben seliger denn Nehmen. Denn indem einer nimmt, macht er das freimütige und noble Geständnis, ein Bedürftiger zu sein, ein Schwacher, ein Bettler...

Das echte Talent erkennt man weniger in seinen erstaunlichen Anlagen als in der selbstlosen Fähigkeit, die überlegene Leistung eines andern glühend zu verehren. Das ist die Noblesse der Ebenbürtigkeit. Möge es auch eitel sein, das Talent, es läßt sich nicht verblenden. Sein schmerzlich waches Unterscheidungsvermögen für Wertgrade ist der Stab, an den es höherklimmt. Der unrettbare Dilettant hingegen verrät sich in der ahnungslosen Freiheit, mit welcher er selbstberauscht, selbstzufrieden und selbstbeschränkt ist.

Selbst ein begabter Dichter oder Künstler kann etwas enthüllen, indem er es verhüllt. Und Gott könnte es nicht?

Die Grundformel aller Sünde ist: Verfehlte oder versäumte Liebe.

Wer zu langsam oder zu schnell liest, sagt Pascal, wird nichts verstehen. Er hat damit den Leser des zwanzigsten Jahrhunderts charakterisiert.

Mit Genehmigung des S.-Fischer-Verlags.

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