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Ski total

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Die großen Gladiatorenkämfe sind ausgebrochen. Auf wissenschaftlich präparierten Latten rasen die Skirennläufer zu Tal, werden über Bodenwellen katapultiert, schlängeln sich in den tollsten Verrenkungen durch Tore, werden manchmal zerrissen“ und .^erlegt“. In diesem Fall pflegen Sportreporter zu sagen: „Aus der Traum!“

Ein Alptraum: Der Rennläufer kämpft um das Unfaßbare, um etwas, das mit unseren Sinnen gar nicht mehr wahrzunehmen ist, um Zehntel- und Hundertstelsekunden. Die Konkurrenten werden zur Meute, die ihn jagt; im Publikum verkörpert sich das Schicksal, das unerbittlich und unmenschlich nur zwei Gesten kennt: die Cäsarengebärde des Daumen-nach-unten oder die Krönung mit Siegerlorbeer. Der totale Skirennlauf findet nicht nur auf der Piste statt, sondern auch an deren Rand und vor dem Fernsehschirm. Ich glaube, daß er in den millionenfach erweiterten Zuschauerräumen überhaupt erst geboren wurde. Ein Zuschauer ist leichter zu verblüffen, ist leichter zur Bewunderung hinzureißen, ist leichter zum „Mitleiden“ zu bringen als tausende Zuschauer — und was man Millionen bieten muß, ist mit dem, was für einen einzel-

nen Nervenkitzel bedeutet, nicht mehr zu vergleichen. Da gilt nur noch eines: Sieg oder spektakulärer Sturz (möglichst in Super-zeitlupe wiederholt, damit sich alle Nuancen so recht genießen lassen).

Vom Wörtchen „total“ ist nur ein kleiner Schritt zu „totalitär“; dem totalen Skirennlauf entspricht ein totalitäres Publikum. Die Zuschauer von Skirennen zählten einst zu den fachkundigsten und daher fairsten. Doch nun hört man aus Groden, daß sie in Pfuirufe ausbrachen, sobald einer ihrer Favoriten sürzte. Im Slalom mußte Karl Schranz im Augenblick der Niederlage auch

noch eine Demütigung hinnehmen.

Ein Mensch allein reagiert selten so; das totale Publikum kann offenbar nicht anders. Vielleicht müßte es nicht so sein. Aber die Anreißer und Ausrufer peitschten die Erwartungen hoch. Sportberichterstatter — wie übrigens auch ihre Kollegen anderer Sparten — sollten nicht illusionäre Hoffnungen nähren, sondern mit Fachwissen dem Zuschauer erläutern, was ihn erwartet. Es ist gefährlich, Millionen aufzuputschen, auch im Sport.

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