Die Kamera flog mitten im Schwarm

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Verhaltensforschung und Ultraleichtflugzeug ermöglichten einen großartigen Naturfilm - und einen Bildband der Sonderklasse

Wer "Das sogenannte Böse" von Konrad Lorenz gelesen hat, weiss: Erblickt ein schlüpfendes Graugans-Küken einen Menschen, ist es "auf ihn geprägt", hält ihn für seine Mutter und läuft ihm Zeit seiner Kindheit nach. Fährt im entscheidenden Moment eine Spielzeuglok vorbei, ist das arme Tier eben auf das lärmende Blechspielzeug fehl-"geprägt". Jacques Perrin prägte auf seinem Landgut in der Normandie gleich die Küken von 24 Vogelarten, Kraniche, Schwäne, Enten darunter, auf sich. Die Königsidee eines Filmproduzenten. Neben dem vielen Geld, den 14 Ultraleichtflugzeugen, den Fallschirmen, den Schiffen, war dies die entscheidende Vorbedingung, um den Film "Nomaden der Lüfte" (Filmkritik auf Seite 21) drehen, um seine dem Menschen bestens vertrauten Hauptdarsteller, die Vögel, im freien Flug fallweise aus einem Abstand von weniger als einem halben Meter filmen zu können.

Der Film ist ein intensives, aber flüchtiges Erlebnis. Das gleichnamige Buch bleibt. Es bewahrt einige der spektakulärsten Momente des Films in eingefrorener Form, parallel fotografiert. Manche Aufnahmen entstanden im extremen Tiefflug, Vögel und Fotograf nur zwei, drei Meter über dem Boden. Das Fahrrad der Lüfte, das Ultraleichtflugzeug, machte es möglich. Locker ging es dahin, Schwinge an Schwinge. Aber kein Segelflieger kann konzentrierter auf seinen Aufsetzpunkt blicken als Schneegänse im Landeanflug. Auch auf dem Boden wurde der Mensch offenbar als Mitvogel akzeptiert, anderenfalls wären ihm auf einer Autobahn in Arizona die Kanadagänse nicht so frontal direkt in die Nahaufnahme hineingeflogen. Mit lautem Geschrei löste sich einmal eine Gans aus ihrer Gruppe, um dem Piloten mitzuteilen, dass er zu schnell flog.

Eine Augenweide, eine Freude, bei der die Seele übergeht. Dabei aber kein Buch "zum" oder über den Film, keines, in dem sich jemand seiner Abenteuer berühmt, sondern ein (ziemlich gewichtiger) Bildband über die wunderbare Welt der Zugvögel. Denn um sie geht es in allererster Linie. Hunderte Arten sind gefährdet. Damit ist dieses Werk auch ein Zeugnis für das Engagement, das Perrin bei seiner dreijährigen Arbeit am aufwendigsten Naturfilm aller Zeiten beseelte.

Ein als fast gespenstisch empfundenes Erlebnis hatte das Team über Island, wo Perrins Gänseschwarm, der sonst willig seiner motorisierten "Leitgans" folgte, unmittelbar nach erfolgreichen Aufnahmen bei zauberhaftem Wetter ohne Turbulenzen urplötzlich den Gehorsam verweigerte und auf eigene Faust zum Bodenteam zurückkehrte. Wenig später wurde das Leichtflugzeug von gewaltigen Böen und Turbulenzen durchgeschüttelt, ohne dass der Pilot etwas unternehmen konnte, und wieder etwas später war alles wieder ruhig und idyllisch wie zuvor. Die Gänse hatten mit ihren Sinnesorganen, über deren Funktion man noch viel zu wenig weiß, das Abrutschen eines Kaltluftkeils vom nahen Vatnajökull-Gletscher wahrgenommen und sich in Sicherheit gebracht.

Ein Film wie vom sechsten Schöpfungstag, aber gedreht ausschließlich mit schweren 35-Millimeter-Kameras der Spielfilmtechnik. Leichtigkeit durch kompromisslose Schwerarbeit. Die Hauptdarsteller flogen teils davon (auch viele frei lebende Vögel wirkten mit), teils kehrten sie in die Vogelparks zurück, aus denen die Eier oder Küken stammten.

NOMADEN DER LÜFTE. Von Jacques Perrin, Text von Jean-François Mongibeaux. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2002. 272 Seiten, durchgehend in Farbe, geb., e 55,60 5

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