In Zeiten, wo die rauhe Wirklichkeit die Politik kaum erträglich erscheinen läßt (wie können wir Österreicher ein Lied davon singen!), lechzt das geprüfte Publikum nach Märchen. Insbesondere die Geschichte vom Flüchtlingsmädchen, das es bis zur Königin bringt, klingt herzerweichend. - Zum Beispiel die Legende von der kleinen Marie Korbel, die gleich zweimal fliehen mußte: Das erste Mal, weil sie 1939 vor den Nazis aus ihrer Heimat nach England fortmußte. Zum zweiten Mal 1948, nach der Rückkehr, als ihre Familie vor den Kommunisten in den USA Zuflucht suchte.
Da moderne Märchen oft in Amerika spielen, fügte sich auch hier eins ins andre, und die kleine Marie ersproß die Leiter vom Flüchtlingsdasein ins Außenministerium, wo sie unter dem Namen Madeleine Albright vor wenigen Jahren ganz oben ankam.
Damit diese typische American-Way-of-Life-Story aber zum Märchen wird, fehlt noch die Krönung. Die kündigte das Time-Magazine an: Madeleine soll zur Präsidentin ihrer früheren Heimat Tschechien werden - wünscht sich laut Time zumindest der derzeitige Amtsinhaber Vaclav Havel (auch er ein Märchenprinz: der einst arme Poet und Verfolgte steigt zum Thron auf ...)
Leider weist - so ein Sprecher des amerikanischen Außenamtes - Albright das Ansinnen von Time und Vaclav Havel zurück. Schade. Sie fühle sich aber geehrt.
Wir haben vom möglichen Aufstieg der US-Außenministerin zur tschechischen Präsidentin noch vor ihrem Dementi erfahren, und zwar aus dem ORF-Teletext. Das geschriebene Angebot des heimischen Fernsehens informierte uns in den wenigen Zeilen, die auf einem TV-Schirm zur Verfügung stehen, auch darüber, daß Madeleine Albright amerikanische Staatsbürgerin sei.
Das hätten wir bei einer US-Außenministerin wohl nicht vermutet!
Aber vielleicht ist die Welt ja ganz verrückt geworden. Wenn etwa der französische und der belgische Finanzminister einen Anti-Schüssel-Aufkleber der österreichischen Grünen bei einem honorablen EU-Ministerrat tragen (so gesehen in der Zeit im Bild), würde uns auch nicht wundern, wenn die Staatsbürgerschaft einer US-Ministerin unklar oder ihr Transfer an die Spitze eines anderen Landes möglich wäre. Ja, manchmal wünschen wir uns, die Politik würde doch zum Märchen geraten. Otto Friedrich
