Geschenk an das Publikum

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ROSETTA - Rosetta

Distanz zwischen Kamera und Figur, Figur und Handlung gibt es für die Brüder Dardenne nicht: Rosetta, ihre verzweifelte junge Heldin, kämpft um Arbeit in einer Welt, in der es nicht genug für alle gibt. Wie in ihrem ersten Spielfilm "La promesse" treiben die Dokumentarfilmer ihre Hauptfigur in einen moralischen Widerspruch. Die Nähe des Stils zur brüchigen Realität, die Nähe der Handkamera zur körperlichen Darstellung, die Nähe schließlich, die der Zuschauer zu Rosetta entwickelt, schafft Betroffenheit, die ehrlich wie kaum in einem anderen Kino ist. Die Einsicht in komplexe Unterdrückungsmechanismen werden mit emotionaler Aufruhr angesichts einer berührenden Erzählung quittiert. Der Cannes-Gewinner des Jahres 1999 ist ein gewichtiger Beitrag des europäischen Autorenfilms, empfehlenswert ab 14.

Man könnte es ein Kino der moralischen Unruhe nennen, die Arbeit der Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne. Schon zum zweiten Mal heben die belgischen Dokumentarfilmemacher eine Grube aus, der die Menschheit nicht entkommt, ohne in die Tiefe der eigenen Seele geblickt zu haben. Die Arbeit an ihrem ersten Spielfilm, "La promesse", ging von der Botschaft des sterbenden Markéll aus Dostojewskijs "Die Brüder Karamasow" aus, derzufolge ein jeder vor allen und für alles schuldig ist. Schuldig werden die Helden dieses Kinos nicht vor Gott, sondern weil sie in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet sind, die sie in den Verrat treiben - an anderen Menschen, die ihnen mit Liebe begegnet sind, und dadurch an sich selbst. "La promesse" legte noch ein ganzes System gesellschaftlicher Unterdrückung frei, ein "Duo Infernale" nannten die Brüder ihr sympathisches Vater-Sohn-Gespann, das auf den Baustellen des familieneigenen Betriebs illegal Handwerker beschäftigte. Die Beziehung zwischen Roger und seinem 15-jährigen Sohn Igor war nicht frei von Gewalt, aber voll von Augenblicken, die ein Band der Freundschaft knüpften. Als Hamidou, ein afrikanischer Einwanderer, vom Gerüst stürzte und der Vater den Schwerverletzten sterben ließ, nahm sich der Sohn dessen Frau Assita an, im Versprechen, das er Hamidou gegeben hatte, und fand zuletzt den Mut, ihr die schreckliche Wahrheit zu offenbaren. Der Film endete zweideutig, im Vakuum des Geständnisses, das keine Lösung bereithält. Rau und ausschnitthaft, in Handkamera und unmittelbarer Improvisation gedreht, sprach der Film von einer unvollkommenen Realität und legte eine Spur, der die Zuschauer zu folgen bereit waren: sie hatten lange nicht mehr erfahren, dass jemand an ihren Blick zu glauben bereit wäre.

"Rosetta" ist ein Geschenk ans Publikum, das "La promesse" überwältigend gewürdigt hat: Die Geschichte ist nunmehr auf eine Person zentriert, auf ein Gesicht gar, auf die Empfindung, der es ausgesetzt und die es doch nicht preiszugeben gewillt ist. Zwanzig Jahre mag Rosetta alt sein, wie ihre wunderbar kindliche und misstrauische Darstellerin Emilie Dequenne, die für diese, ihre erste Arbeit, 1999 in Cannes den Preis für die beste Darstellerin - und für "Rosetta" die Goldene Palme - davontrug. Was strukturell in postkapitalistischen Gesellschaften an Arbeitsmarktproblematik gegeben ist, wird hier persönlich ausgehandelt: Rosetta kämpft um Arbeit mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden. Sie klammert sich am Spint in der Fabrik fest, sie nimmt in einer Bäckerei einer jungen Mutter die Arbeit weg, deren Kind für den Besitzer zu oft krank ist, sie verliert die Arbeit wieder an den Sohn des Besitzers, sie verrät, schließlich, den einzigen Menschen, der ihr geholfen hat, nur, um seine Stelle in der Waffelbude einzunehmen. Riquet (Fabrizio Ron) hätte sie teilhaben lassen an seinem kleinen Nebengewinn, aber Rosetta will Arbeit, die "richtig" ist, im Verhältnis der Ausbeutung, das sie, ohne Gewissen und Erinnerung, weitergibt.

"Ich glaube, um von spiritueller und moralischer Verwirrung zu sprechen, muss man von materieller Entsagung ausgehen", sagt Luc Dardenne, und die Brüder geben Rosetta die Angst vor dem Scheitern ihrer alkoholkranken Mutter mit, vor der Randexistenz auf dem Campingplatz, wo die Mutter mit Prostitution die Stromrechnung und die Betäubung zu zahlen gewillt ist, und eine Wasserflasche zum Trinken, Schuhe für die Arbeit und Gummistiefel für den Schlamm der Unterkunft, eine verrostete Dose für Angelhaken und eine Glasflasche zum Fang von Fischen, die Rosetta wieder dem Wasser zurückgibt. Die Kamera verfolgt sie, ihr distanzlos nah auf den Leib gerückt, wie die Blutspur eines verletzten Tieres: Rosetta hetzt immer wieder über die Schnellstraße ins Gebüsch, durch die Büsche, das Schlupfloch des Zauns, aufgeplatzte Hände und dreckumrandete Finger. Eine Überlebende, die zum Schluss doch das Leben findet. Aus der fehlenden Humanität der Verhältnisse heraus für den Einzelnen den Weg der Verantwortung zu weisen: Dafür werden die Brüder Dardenne von einer Filmkultur, die vielleicht ein schlechtes Gewissen hat, prämiiert.

B/F 1999 - Produktion: Les Films du Fleuve, ARP, RTBF - Produzent: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne, Michèle Pétin, Lautent Pétin, Arlette Zylberberg - Verleih: polyfilm - Länge: 95 min. - Regie und Buch: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne - Kamera: Alain Marcoen - Schnitt: Marie-Hélène Dozo - Musik: Jean-Pierre Cocco - Darsteller: Emilie Dequenne, Fabrizio Ron, Anne Yernaux, Olivier Gourmet - BBWK: nicht eingereicht - Prädikat: nicht eingereicht

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