Keine Mutter Teresa für KASSENPATIENTEN

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Frankreichs Schauspielstar Adèle Haenel brilliert in "Das unbekannte Mädchen", dem neuen Film des belgischen Regie-Brüderpaars Dardenne.

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Frankreichs Schauspielstar Adèle Haenel brilliert in "Das unbekannte Mädchen", dem neuen Film des belgischen Regie-Brüderpaars Dardenne.

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Den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne gelingt mit "Das unbekannte Mädchen bereits der zehnte gemeinsame Film. Und das filmende Geschwisterpaar aus Belgien übertrifft sich in diesem quasi Jubiläumswerk einmal mehr selber. Denn das sozialkritische Kino der Dardennes unterscheidet sich doch stark von Brüdern im Geiste wie Ken Loach, der in seinem Schaffen meist das Anklagende wider die menschenverachtende Ökonomie und das Drumherum dabei auch als künstlerische Triebkraft versteht.

Bei den Dardennes steht aber die Geschichte und deren Reiz im Vordergrund, die Folie sozialer Tristesse überlagert niemals das Spielerische eines Plots. Und wenn - wie zuletzt in "Zwei Tage, eine Nacht" (2014) - ein Filmstar wie Marion Cotillard gegen die Perfidie eines Unternehmers und das nicht minder abgründige Verhalten der Kollegenschaft kämpft, so geht gerade das als Spielfilm auf.

Gleiches ist den Regie-Geschwistern auch mit ihrem neuesten Opus gelungen. In "Das unbekannte Mädchen" zeigt sich außerdem, dass auch eine Krimi-Handlung mit dem gesellschaftsbeschreibenden Anliegen zu verbinden ist. Und dank Adèle Haenels, des zurzeit so strahlenden Sterns am frankophonen Kinohimmel, Spiel wird klar, dass ein emotional durchaus fordernder Plot auch durch sympathische Coolness zu bewältigen ist.

Diese Kombination ist im Dardenne'schen Kosmos neu, man sollte sie keinesfalls versäumen: Jenny Davin ist eine Allgemeinmedizinerin im belgischen Lüttich, die einen Karrieresprung vor sich hat. Nach Jahren der Vertretungstätigkeit in Hausarztpraxen sozialer Brennpunkte hat sie einen Job im feinen Gesundheitszentrum ergattert, das sich ihre bisherige Klientel kaum wird leisten können.

Unterlassene Hilfeleistung

Doch an ihrem letzten Abend in der tristen Praxis von Dr. Habran, der im Spital liegt, läutet es eine Stunde nach Ordinationsende. Jenny, müde vom langen Arbeitstag, verbietet ihrem Praktikanten, die Tür zu öffnen. Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass die junge Schwarze, die an der Tür war, tot aufgefunden wurde.

Jenny fühlt sich schuldig am Tod der afrikanischen Prostituierten - und krempelt ihr Leben um. Sie lässt den neuen Job sausen und übernimmt die Praxis von Dr. Habran. Und sie beginnt vor allem, dem Tod des unbekannten Mädchens nachzugehen - abseits der polizeilichen Ermittlungen.

Zunächst muss sie die Identität der Toten herausfinden, dabei gerät sie immer mehr in einen Strudel an Ereignissen, deren Verkettung zum Tod der Afrikanerin geführt haben. Dass sie dabei der Polizei bei Ermittlungen in der Drogenszene ebenso in die Quere kommt wie einer Familie, die gerade dabei ist, die Brüche in ihr mühsam zu kitten, tut ihrem Drang, der Ermodeten zumindest postum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, keinerlei Abbruch. Auch dass sie selber ins Visier des organisierten Verbrechens gerät, stoppt Dr. Davin nicht.

Dabei ist die Protagonistin von "Das unbekannte Mädchen" keineswegs eine Mutter Teresa für Krankenkassenpatienten. Und auch als nervliches Wrack, das sich in seinen Schuldgefühlen suhlt, hält diese Gestalt von einer Medizinerin nicht her.

Erfrischend unsentimental

Erfrischend unsentimental kommt Frau Dr. Davin daher. Die moralische Anfechtung durch ihre unterlassene Hilfeleistung ist zwar der Antrieb der Lebensummodelung. Aber diese geschieht völlig unsentimental -und sie nimmt dabei auch die gebrochenen und brechenden Existenzen mit, die ihr bei den Nachforschungen nahekommen.

So gerät Jenny letztendlich auch in Richtung Lösung des Kriminalfalls, aber im Gegensatz zu den einschlägigen Vorbildern des Genres, geriert sich Frau Doktor nicht als Quasi-Kommissarin: Wer den Tod der jungen Afrikanerin auf dem Gewissen hat, der muss schon selber mit sich und der (Nach-)Welt ins Reine kommen.

Es ist -neben der Regie der Gebrüder Dardenne -vor allem das Verdienst von Adèle Haenel, dass dieses Filmkonzept aufgeht. Dass vor und hinter der Kamera versucht wurde, jeden Anflug an Sozialkitsch zu vermeiden, ist das größte Ass des Leinwandopus. Auf diese Weise gelingt es eigentlich unnachahmlich, die sozialen Fragen auf den Punkt zu bringen, ohne sie wie dramaturgische Bleigewichte einzusetzen: Die kleinen, aber irrsinnig vielen Unglücke, denen Dr. Davin in ihrer Praxis und bei ihrer Mördersuche begegnet, machen die Protagonistin nicht irrsinnig.

Im Gegenteil. Man muss den Dardennes und Haenel Anerkennung zollen, dass ihnen auf diese Weise ein hoffnungsvoller Film gelungen ist, den man unter diesen thematischen Umständen nie und nimmer vermutet hätte.

Das unbekannte Mädchen (La fille inconnue) B/F 2016. Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne. Mit Adèle Haenel, Jérémie Rénier, Louka Minella. Polyfilm. 106 Min.

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