Magisches Universum

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DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE - Fabuleux destin d'Amélie Poulain

Realität und Sozialkritik sind Jean Pierre Jeunets Sache nicht: Die Bilder sind exzessiv bearbeitet, in leuchtendes Rot und glanzvolle Buntheit getaucht, das Paris einer nie dagewesenen Vergangenheit wird kunstvoll patiniert, die Handlung entwickelt sich verwoben und verdichtet, die Szenen sind schwindelerregend aufgelöst und geschnitten, und in der Mitte des Reigens steht Amélie. Frankreich hat einen neuen Star mit Audrey Tautou und mit Amélie eine Figur, wie sie naiver und warmherziger, scheuer und schöner nicht sein könnte. Amélie beschließt eines Tages, in das Schicksal der sie umgebenden Menschen einzugreifen, und als ihr mit Nino (Mathieu Kassovitz) ihr eigenes begegnet, weiß sie nicht, wie sie sich selbst das Geschenk machen soll, das sie allen anderen - und dem Zuschauer - zu freimütig zu Füßen legt. Der Titel ist Programm und der Film ein zuckersüßer Zauber, dem sich zu entziehen es keinen Grund gibt. Das Fabelwesen Amélie steht für einen der schönsten Filme des Jahres, empfehlenswert ab 14.

An Emily Watson in Lars von Triers "Breaking the Waves" und an ihre Mischung aus Naivität und Entschlossenheit dachte Jean-Pierre Jeunet, als er am Drehbuch schrieb (freilich nicht an die Last der göttlichen Weisung, die ihr Trier mit auf den Weg gab), und als Emily Watson sich aus dem Projekt zurückzog, wurde aus ihrem Namen "Amélie" geboren und Frankreich hat einen neuen Star mit Audrey Tautou, die mit einer anderen, legendären Audrey nicht nur den Namen teilt, sondern auch den Zauber einer Erscheinung, so ebenmäßig und elegant, so betörend und bescheiden.

Von Marc Caro getrennt, mit dem Jeunet "Delicatessen" und "Die Stadt der verlorenen Kinder" entworfen und realisiert hatte, hat sich Jeunets Arbeit vom Surrealen und Absurden, Bitteren und Programmatischen entfernt. In Los Angeles, während der Arbeit an "Alien - Die Wiedergeburt" hat Jeunet nicht nur seine exzessive Bildbearbeitung perfektioniert, sondern auch ein Paris entworfen so blankpoliert, so in süßen Schmelz getaucht, wie es nie gewesen ist.

"Amélie" ist Zimt und Zucker, rote Glasur und Vanille, ein magisches Universum der erdachten Gleichzeitigkeiten, in dem es nur eine Stubenfliege gibt - und die wurde hineinmontiert -, in dem Gegenstände, die der Maler Michael Sowa entworfen hat, genauso sprechen können wie Passbilder, in dem ein Reigen der Einfälle, ein gestaltetes Chaos an Sammelleidenschaften, ein Karussell an Schicksalen schneller und schneller sich drehen, bis sie den Zuschauer vollends ausgesogen haben und wieder entlassen, wirr vor Vergnügen und mit weichen Knien. In aller Mitte: Amélie.

Seit ihre Mutter von einer Selbstmörderin, die sich vom Kirchturm stürzte, erschlagen wurde, und der Vater, ein Arzt, das Herzklopfen seines einzigen Kindes nicht als Liebesbedürftigkeit, sondern als Herzfehler deutete, wuchs Amélie so abgeschottet auf, dass vor ihren Augen nie die Welt, sondern nur die Bilder ihrer eigenen Phantasie regierten. Jetzt ist Amélie erwachsen, trägt rote Kleider und lebt in einer roten Wohnung, arbeitet in einem Café am Montmartre und beschließt eines Tages, als sie hinter einer losen Kachel im Badezimmer die Spielzeugdose eines längst erwachsen gewordenen Jungen findet, für andere Menschen Schicksal zu spielen.

Amélie bastelt an ihren Träumen und füttert ihre Sehnsüchte, macht wirklich, was gewünscht wird, und, wenn es sein muss, macht sie auch eine böse Realität unwirklich. Sie straft den fiesen Gemüsehändler, sie bringt im Café den alarmierend eifersüchtigen Joseph (Dominique Pinon in der wohl witzigsten Rolle, die er für Jeunet je spielte) mit der hypochondrischen Tabakverkäuferin Georgette zusammen, sie schreibt die Liebesgeschichte ihrer Concierge um.

All dies geschieht in jenem schwindelmachenden schnellen Tempo, von dem Amélie einen Pathé-Film, der sie zeigt, wie sie schließlich an Erschöpfung stirbt, imaginiert. Amélie verzaubert ihre Mitmenschen und scheut den größten Zauber für sich. Mathieu Kassovitz spielt den schüchternen Nino Quincampoix, der Passbilder rettet, die niemand haben will. Es finden sich zwei und gehen auf Schnitzeljagd mit ihren ganz eigenen Mitteln, selbstvergessene Kinder eines Märchens von der Liebe, zärtlich gezeichnet wie die Figuren von Renoir, die Amélies Nachbar, der Mann mit den Glasknochen, immerfort kopiert.

Frankreich 2001 - Produktion: Victoires Productions, Tapioca Films, France 3 Cinéma, MMC Independent - Produzent: Claudie Ossard - Verleih: filmladen - Länge: 120 min. - Regie: Jean-Pierre Jeunet - Buch: Guillaume Laurant, Jean-Pierre Jeunet - Kamera: Bruno Delbonnel - Schnitt: Céline Kelepikis - Musik: Yann Tiersen - Darsteller: Audrey Tautou, Mathieu Kassovitz, Rufus, Yolande Moreau, Dominique Pinon, Jamel Debbouze - BBWK: ab 6 - Prädikat: besoners wertvoll

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