Tristesse braucht Märchen

Werbung
Werbung
Werbung

" Regisseur Aki Kaurismäki gibt zu verstehen, dass die Hoffnung auch beim Flüchtlingsthema zuletzt stirbt. “

Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. So lautet der Terminus im Bürokratendeutsch. Man darf vermuten, dass die Benennung dieses prekären Sachverhalts auf Französisch oder auf Finnisch nicht weniger gespreizt daherkommt. Wer sich ein wenig mit der Flüchtlingsproblematik im sich vehement abschottenden Europa auseinandersetzt, weiß, dass die alleinstehenden Jugendlichen aus dem Nirgendwo von den Unmenschlichkeiten, denen Asylwerber quer durch die Europäische Union ausgesetzt sind, verschärft betroffen sind (vgl. dazu etwa FURCHE 41/2011).

"Das europäische Kino hat sich bisher nicht sonderlich mit der sich ständig verschlimmernden finanziellen, politischen und nicht zuletzt moralischen Krise beschäftigt. Diese Krise ist auch die Ursache für die weiterhin ungelöste Flüchtlingsfrage“, meint der finnische Regie-Star Aki Kaurismäki.

Zumindest was das heimische Filmschaffen betrifft, kann dem nicht unbedingt beigepflichtet werden: Von Nina Kusturicas berührendem "Little Alien“ (2009) bis zu Erwin Wagenhofers "Black Brown White“ (2010) reicht die Palette an Zugängen zum Thema. Und doch hat Kaurismäki recht, wenn er mehr cineastisches Engagement einmahnt. Und er, der gemeinhin ja als "Regisseur der kleinen Leute“ gilt, nimmt sich gleich selbst beim Schopf: Auch wenn er selber keine Lösung habe, wolle er sich trotzdem mit "diesem, wenn auch unrealistischen Film“ dem Problem widmen.

Bezaubernde wie zauberhafte Geschichte

Ein wenig Understatement wohnt zitierter Aussage inne, ist doch Kaurismäki mit seinem neuen Film "Le Havre“ wieder ein großer Wurf gelungen. Die bezaubernde wie zauberhafte Geschichte des minderjährigen Flüchtlings Idrissa, der vom Schuhputzer und (Ex-)Bohemien Marcel Marx vor der Unerbittlichkeit der Obrigkeit (und der Gesellschaft) gerettet wird, reüssierte schon auf etlichen Filmfestivals. Zuletzt eröffnete "Le Havre“ die heimische Viennale.

Auf der einen Seite gilt: "Le Havre“ ist ein Märchen. Denn diese Geschichte findet in Wirklichkeit nicht statt. Das kann jeder ernüchterte Gutmensch irgendwo in Europa bezeugen. Und dennoch gibt der finnische Filmemacher, der sein Opus in der schon nicht mehr in ihrer Blüte stehenden französischen Hafenstadt Le Havre spielen lässt, zu verstehen, dass die Hoffnung auch bei diesem tristen Thema zuletzt stirbt. Ja, so das Märchen, in Verkettung glücklicher Umstände könnte es für den kleinen Protagonisten - und nicht nur für ihn - den Silberstreif am Horizont geben. Und der auch von der Unbill des Lebens längst gezeichnete Hüter des Gesetzes hat eine Seite, die seine Vorgesetzten gar nicht freuen dürfte.

Marcel Marx, einst Autor, hat sich Le Havre als Exil gewählt, wo er mit seiner Frau Arletty zurückgezogen lebt und sich als Schuhputzer über Wasser hält. Er ist ein kaum lebenstüchtiger Bohemien geblieben, dessen Alltag vor allem durch die sanfte und gleichzeitig strenge Hand Arlettys bewältigbar bleibt. Doch Arletty erkrankt schwer.

Da läuft ihm der junge afrikanische Flüchtling Idrissa über den Weg. Und das zwingt Marcel, einen geradezu unerschütterlichen Optimismus an den Tag zu legen und so zu tun, als ob er Idrissa die erhoffte Überfahrt nach London ermöglichen konnte, wo dessen Verwandte sich um den Buben kümmern könnten. Da die französischen Ordnungskräfte solchem Ansinnen naturgemäß einen Riegel vorzuschieben trachten, muss Marcel zumindest sein inneres Exil aufgeben und beweisen, dass er, wenn er will, es faustdick hinter den Ohren haben kann. Marcel darf dabei auch auf die schlichte, aber ungebrochene Solidarität der kleinen Leute seiner Umgebung zählen, die wenig mit der großen europäischen Politik am Hut haben, die aber nicht zuschauen wollen, wie sich ein unerbittliches System sogar an den Kindern vergreift.

Wahrscheinlich ist das auch das Motiv dafür, dass der griesgrämige Kriminalkommissar Monet nicht nur den Buchstaben des Gesetzes im Sinn hat.

Kaurismäkis plausible Leichtigkeit

Aki Kaurismäki kommt das Verdienst zu, diese Geschichte in plausibler Leichtigkeit und mit der Heiterkeit der kleinen Leute wirklich zu machen. Dazu steht ihm ein bis in die Nebenrollen grandioses Ensemble zur Verfügung: André Wilms gelingt als Marcel eine perfekte Charakterdarstellung, sein kindliches Vis-à-vis Blondin Miguel (Idrissa) steht ihm kaum nach.

Und sowohl Jean-Pierre Daroussin (Monet) wie Kati Outinen (Arletty) tragen bei zum Märchen, das sich als kleines Plädoyer für eine kleine, aber menschenwürdige Wirklichkeit entpuppt.

Le Havre

FIN/F/D 2001. Regie: Aki Kaurismäki.

Mit André Wilms, Blondin Miguel, Jean-Pierre Darroussin, Kati Outinen. Stadtkino. 93 Min.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung