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Aktiver stiller Wortschatz

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Mit Denken hat es kaum zu tun, das aus einem Wort entworfene Bild, obwohl es ohne Denken nicht geht.

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Mit Denken hat es kaum zu tun, das aus einem Wort entworfene Bild, obwohl es ohne Denken nicht geht.

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Du kennst meinen stillen Wortschatz nicht, wenigstens etwas davon will ich dir zeigen, bevor du gehst. Das da ist etwas wirklich Besonderes: „Tafel”. Tafel! Ein Wort, ein Wunder, nimm dieses Wort, und du hast die Welt. Wenn Taferl-klassler auf einem Tafelberg tafeln, hinter und über ihren Köpfen eine pfeilförmige Tafel mit der Aufschrift „ZUM TAFELEN-STEIG”, und gemeint ist ein Steig, von dem schon so viele abgestürzt sind, daß vier-fünf Spruchtafeln am Fuß des Steiges ihrer gedenken, weil so vielleicht doch einige Nochlebendige sich das Klettern aus Kopf und Schuhen schlagen und bei dem Wirtshaus „Unterm Tafelen-Steig” bleiben. Der Steig wird vor dem Anbringen der Tafelen anders geheißen haben, du verstehst. Tafeln, Schlemmen, genießend wohlschmeckende Speisen sich zu Gemüte führen, Lippen-Zun-ge-Zähne-Gaumen-Nase-Kehl-kopf-Magen-Bauch: alles Gemüt!

Der Berg heißt nicht Tafelberg, er ist einer. Der Wirt hat nur den Steig und die Wanderlüste der Gäste zu gewärtigen gehabt und es sich angelegen sein lassen, die Tafelen schreiben, malen, aufstellen und, vor alldem, finanzieren zu lassen, damit niemand mehr mit leerem Magen zu Absturz und Tafele käme, so viele schon seien genug. Du kannst die Geschichte haben, sie ist unrettbar altmodisch und schwach, nur an dem Wort aufgehängt. Das Wort ist nicht verkäuflich und nicht käuflich, wer es mißwendet, hat es gestohlen. Ich fmde kein zweites, das diesem „Tafel” Wasser und Salz reichen könnte, das hängt mit dem, was ich gerade mache, nämlich „Tafel” herzeigen, zusammen.

Wenn du ein Wort einmal angeschaut hast, spürst du es auch dort noch, wo es fehlt, nicht ins Gesprochene kommt. Du kannst die Probe machen. Denk dir die Taferlklassler weg, das Wirtshaus weg, den Wirt weg. Der Tisch steht auf dem Tafelberg, irgendwo dahinter ist der Tafelen-Steig. Jetzt nimm auch den Pfeil „Zum Tafelen-Steig” weg. Der Tisch steht auf dem Berg. Ein Tisch auf einem Berg. Wenn jetzt noch etwas spürbar mit in dem Bild ist, schwierige kleine Wirbel, Unruhestellen im Leeren, hast du das Wort gesehen, angeschaut, einige seiner Tentakel wahrgenommen, und an den Vibrationen, die es erzeugt hat, erkennst du es nach Jahren noch. Es kann sich unsichtbar und unhörbar in der Nähe aufhalten, du bemerkst es trotzdem, spürst es.

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