Aal - © Foto: iStock/MikeLane45

Die Schönheit der Aale

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Der Mensch wird nie den Zielinstinkt der Aale erreichen können, aber wenn er sich seiner Wünsche erinnert, erlebt auch er manchmal Metamorphosen.

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Der Mensch wird nie den Zielinstinkt der Aale erreichen können, aber wenn er sich seiner Wünsche erinnert, erlebt auch er manchmal Metamorphosen.

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Wenn der Mensch Richtung 50 marschiert, fragt er sich gewöhnlich einmal bilanzierend, welchen Sinn sein Leben hat oder gehabt hat. Verfehlte Karrieren, gescheiterte Beziehungen, fragwürdige Gesundheitswerte – und überhaupt: Unzufriedenheit mit allem und jedem: Das ist der Stoff, aus dem jene Midlife-Krisen gewoben sind, die gern auch bis zum Tod dauern können. Von so einer manifesten Zielunsicherheit aus betrachtet scheint es etwas abrupt, ausgerechnet zur Geschichte des europäischen Aals zu wechseln. Und doch ist dieser Fisch ein Beispiel für die unglaublichste Zielsicherheit – was seine Lebensläufte betrifft. Denn so er nicht getötet oder eingesperrt wird, beginnt und endet der Aal in den glasklaren Wassern der Sargassosee, einem wilden Meer östlich von Florida und südlich der Bahamas.

Dazwischen bereisen Aale für mehrere Jahrzehnte Meere und Flüsse über Tausende Kilometer weit, um sich dort von Fischen oder Krebsen zu ernähren. Das Erstaunliche daran ist nicht der in jeder Hinsicht lange Lebensweg, sondern wie sehr Aale ihrem Ziel, an ihren Ursprung zurückzukehren, alles unterordnen. Sie bauen sich durch Metamorphosen mehrmals vollständig um, von der mehrere Tausend Seemeilen schwimmenden Larve zum Glasaal, dann zum flussaufwärts strebenden Steigaal und dann zum Blankaal, der letztlich den Rückweg in die Sargassosee antritt. In diesem letzten Stadium wird der Fisch vollkommen energieneutral. Der Verdauungstrakt wird zurückgebildet, der After eingezogen. Der Aal lebt nur von den angesammelten Fetten. So lässt er sich bis zu drei Jahre lang mit den Strömungen des Atlantiks Richtung Heimat treiben, um sich in der Sargassosee zu paaren und zu sterben. Warum so unzufrieden?

Wir haben es hier also auf der einen Seite mit einer über- (oder un)menschlichen Art der Erfüllung eines Wunsches oder Lebenstriebes zu tun. Auf der anderen Seite kann man sich zu Zeiten, in denen man orientierungslose Unzufriedenheit bis auf die Knochen spürt, an den Aalen erbauen. Und zwar insofern, als Menschen zwar nie eine solche Gewissheit im Ziel erlangen können, immerhin aber die Macht eines Wunsches nach einem Ziel aktivieren können. Oft sind diese Wünsche im Alltag zur Seite gedrängt, weil sie aus der Kindheit oder Jugend stammend nicht zu beruflichen und privaten Zwängen passen, die einen gewöhnlich umgeben. Doch wer sich solche „Lebensträume“ freilegen kann, hat ein kaum erschöpfliches Energiereservoir vor sich, das unter Umständen sogar Metamorphosen der Existenz auslösen kann. Wie man dorthin gelangt? Man stellt und beantwortet die einfachste und schwierigste Frage der Philosophie: Warum ist das Leben schön?

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