„Das japanische Theater lebt nicht vom Text, es ist ein Theater der Darstellung, der Schauspielkunst. Darin sehe ich auch mögliche Impulse für das westliche Theater. Wir könnten wegkommen vom rein literarischen Texttheater und die Schauspielkunst wiederbeleben“, meint dazu Thomas Leims, Spezialist für japanisches Theater am Wiener Institut für Theaterwissenschaft.
Als erster Europäer hat er den Grad eines Master of arts in japanischer Theatergeschichte an der Wase- da University in Tokyo erlangt und ist während seines fünfjährigen Aufenthalts im Fernen Osten mit allen Formen des Nippon-Theaters vertraut geworden.
Durch seine Übersetzung von To- shio Kawatakes Werk „Das Barocke im Kabuki - Das Kabukihafte im Barocktheater“ gibt es nun nach zehn Jahren wieder ein Buch über japanisches Theater in deutscher Sprache. Dem interessierten Leser bietet die vom Übersetzer zusammengestellte Inhaltsübersicht der im Text behandelten Stücke einen guten Einstieg in ein den meisten nicht so vertrautes Gebiet.
Das Kabuki ist eine der populärsten Theaterformen Japans. Allein in Tokyo zieht es täglich rund 10.000 Zuschauer an. Was bedeutet aber Kabuki? Die Etymologie des Wortes bietet mehrere Erklärungen, die Schreibung mit drei chinesischen Schriftzeichen, die Gesang, Tanz und Extrovertiertheit bedeuten, erscheint zwar erst spät, trifft aber doch das Wesen.
Jeder Schauspieler einer Truppe (der Vater bildet seine Söhne oder Adoptivsöhne in der Schauspielkunst aus) „ererbt“ von seinem Vorgänger eine Rolle sowie den Darstellungsstil. Bleibt da noch Raum für eigene Kreativität und Rollengestaltung? „Es wird zwar immer ein bestimmter Typus dargestellt, dem begabten Jungschauspieler bleiben aber genug Variationsmöglichkeiten“, so Thomas Leims.
Auf dem Programm stehen fast nur Stücke, die aus der Zeit vor 1900 stammen, nur die Texte für kleine musikalische Einlagen, unseren Couplets vergleichbar, werden neu geschrieben. Überhaupt spielt die Musik eine große Rolle, sie dient sozusagen als das Leitmotiv eines Stückes.
In dem erwähnten Buch versuchte Kawatake, die Gemeinsamkeiten des Kabuki mit der barocken Form des europäischen Theaters zu erarbeiten, Gerade die Geschichte der Übernahme westlicher Theaterstücke durch das Kabuki beweist die „Bluts-^ Verwandtschaft“ mit dem westlichen Theater barocken Charakters.
„Hamlet“, „Othello“ oder Moliè- res „Tartuffe“ sind zum Beispiel Stücke, die - bearbeitet - auf die Kabuki-Bühne gebracht wurden.
Dem europäischen Theater hat die japanische Bühnenpraxis in den letzten 100 Jahren manchen Impuls versetzt.
Max Reinhardt, der ja auf ein „antinaturalistisches, barockes“ Theater hinarbeitete, verpflanzte die Drehbühne, eine fernöstliche Erfindung, nach Europa.
Der russische Regisseur und Theaterleiter Wsewolod Meyerhold etwa übernahm die Idee des Auftrittssteges für seine neue Inszenierungsform. Dieser „Hanamichi“, der in die Zuschauerreihen hineinreicht, verstärkt den ditekten Kontakt zu den Zuschauern und kann gleichzeitig einen Verfremdungseffekt erzielen.
Die Verwandtschaft zum Film mit seinem visuellen Empfindungsreichtum erkannte der russische Regisseur Sergej Eisenstein, der durch Bildsymbolik und Montage im Film („Panzerkreuzer Potemkin“) große Wirkung erzielte.
Bert Brecht und Peter Weiss beispielsweise wurden als Theaterschriftsteller vom Kabuki beeinflußt.
Gegenwärtig kann Wien als das Zentrum der Japan-Theaterforschung in Europa gelten. Die erste europäische Kabuki-Konferenz, die hier kürzlich stattfand, hat das deutlich unterstrichen. Für 1982 ist das Gastspiel einer Nö-Truppe - das religiöse Nö-Spiel ist die klassische Theaterform der Oberschicht Japans - ge? plant. Zu den Wiener Festwochen 1983 möchte man ein Kabuki-Ensemble in die Donaumetropole bringen.
DAS BAROCKE IM KABUKI - DAS KABUKIHAFTE. IM BAROCKTHEATER. Von Toshio Ka- watakc. Aus dem Japanischen übersetzt von Thomas Leims. Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1981, 128 Seiten, Abb., brosch., öS 210.-