7075102-1993_15_10.jpg
Digital In Arbeit

Arbeitsame Insekten unter der Sonne

Werbung
Werbung
Werbung

Der Mensch, so wie er sich selbst ersinnt im Geschehen der Dinge, nicht wie er sich entwickelt, ist ein arbeitsames Insekt unter der Sonne. Das Insekt in seinem innigsten Dasein, im bloßen Sein zwischen der menschlichen Pflanzenwelt und Tierlandschaft, der sichtbaren oder auch unsichtbaren Existenzformen und Elemente. Die Dinge und Wesen wiederum erhalten eigene Dimensionen, die in ihrer Gesamtheit ausgeglichen, gelassen und equilibriert erscheinen.

Die Gestalt des Vogels wird erst durch farbklangliche Inventionen sowie durch komponierte Formen und Zeichen zur „ver-rückten" Metapher mit suggestiv-magischer Ausdrucksstärke. Der Schmetterling und die Frau verweisen auf Urformen oder Chiffren der Psyche, des Todes und der Liebe. Die Eidechse mit der Goldfeder. Nocturne Der Ibis und der Bär. Die Schnecke, die die Sonne erblickt. Die Eule und der Fisch. Der Käfer unter der Sonne. Das Insektarium der Welt als eine andere Metamorphose der menschlichen Landschaft.

Der katalanische Maler Joan Miro, geboren am 20. April 1893 in Barcelona, lernte Pablo Picasso auf seiner ersten Reise nach Paris im Jahre 1919 kennen und bewegte sich fortan im Kreis der Surrealisten, an deren erster Ausstellung er in Paris 1925 mit frühen Werkproben seines „katalanischen Kubismus" teilnahm. Der an-dalusische Lyriker Rafael Alberti, „eine Koryphäe des ersten Surrealismus" (Hans Hinterhäuser), lernte die avantgardistischen Maler Spaniens, darunter Salvador Dali und später Joan Miro, allesamt in Paris kennen.

Zwischen Barcelona und Paris pendelte Joan Miro bis 1956 hin und her, bevor er auf die Balearen nach

Palma de Mallorca übersiedelte, wo er neunzigjährig am 25. Dezember 1983 verstarb.

Das poetische Universum der Insekten in der charakteristischen Formen- und Zeichen-Sprache von Joan Miro faszinierte Rafael Alberti so sehr, daß er in den achtziger Jahren darüber ein essayistisches Poem, betitelt „Miro-Insekt", schrieb, das mit einem Akrostichon beginnt: „Malvenfalter / Ist nicht entzifferbar / Ruf mich ins Gedächtnis / Oder flieg zum Meer." In der Tierwelt sind die Insekten die artenreichste Gruppe, ein überlebenswichtiger Mikrokosmos, unlöslich verquickt mit dem Dasein der gesamten Flora und Fauna der Erde. Ein lateinamerikanischer Nachtfalter, die Riesen-Eule, hat die größte Flügelspannweite mit gut 30 Zentimeter.

Neben den vielfältigen Fluginsekten mit völliger oder auch unvollendeter Verwandlung gibt es die zahlreichen flügellosen Arten. Die kleinsten Insekten messen unsichtbare 0,2 Millimeter unterm Mikroskop.

Rafael Alberti entwirft ein poetisches Mirö-Panoptikum: „abstrakte Mücke mit Fieberkrämpfen // kleiner Skarabäus wie ein Nashorn / Libelle, die die Luft verrückt macht/blaue Fliege, sterbend in grüner Fliege / Sphinx-Hummel, ein Liederjahn / von allen Farben gefeierter Falter / kontrabaßspielende Grille / Ameise beim Aufstieg zum Fixstern Alde-baran // geflügelt / mit schweren Armen/hintereinander/ stachelig / jählings / frei // schlängelnd / schwimmend / spielend / hopsend / tummelnd // bin / Tänzerin / Schwindlerin/Weberin/Sängerin / in / Zinn // Heuschrecke im Aufmarsch // Zikade, eine Kiefer fällend / Kaktusschildlaus, in der Nacht gesprenkelt // Hundertfüß-ler mit einem Bein / Skorpion für eine amarantrote Brust."

Das pikareske Insektarium im Werk Joan Miros ist eine mediterrane Chiffre seines bewußten Lebenssinns und tellurischer Transparenz kraft kreativer Schlichtheit, Rhythmus, Geometrie und Luzidi-tät.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung