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Der Blick auf die Fichten

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Es ist wie bei dem Mann, der auf dem Markt von Stand zu Stand geht, und von dem ich weiß, daß er täglich von Stand zu Stand geht, nicht jedoch genau weiß, wann er das tut; da ich ihn aber oft so habe gehen sehen, habe ich auch nach und nach aufgehört, ihn zu sehen. Die Sehgewohnheit ist nämlich der Tod des Sehens, und also habe ich auch die beiden Bäume nach und nach nicht mehr gesehen, die Nadelbäume, genauer, die Fichten, sie standen nahe der Ausfahrt, auf des Nachbars Grund, besitzrechtlich gesagt.

Sie waren mir aufgefallen, nicht gleich einem Bild, welches das Auge anfällt, nein, sie waren in einem Prozeß des Auffallens mir aufgefallen, nicht unvermittelt, sondern zügig, Bild an Bild, nicht jeden Morgen auch, überhaupt nicht bei jeder Ausfahrt. Es gab Unterbrechungen, Unterbrechungen der Wahrnehmung; die eine begann, daß ich wahrnahm, die Fichte links decke weniger Himmel ab, als die rechts. Und nicht sehr viel später, übers Jahr nur, machte es die rechts ihr nach. Und einmal nahm ich wahr, daß zwischen der links und der rechts mehr Frühlicht auf den Weg sich hinbreitete.

Ich war da eine Morgenverhal-tenheit gewohnt, und immer, wo etwas mehr Licht sich zeigt, indes man des Dunklen, des Schattens, gewohnheitsmäßig gewärtig ist, blickt man dorthin, woher man Helligkeit erwartet, und als ich demnach, einmal irritiert vom Ausbleiben des Schattens, an der Ausfahrt — ich hielt den Wagen dazu an hinaufblickte, da bemerkte ich, daß beide Fichten, die links und die rechts, mehr Licht, mehr Himmel durch die Zweige ließen, und daß sie nicht in Fülle, Nadeln und Grün standen, vielmehr sich zur Graphik ihrer selbst abstrahiert hatten.

Das ist für das menschliche Auge die Frist, in welcher sich der Baum allmählich, Nadel für Nadel, seiner entledigt, das Holz der Zweige tritt heraus, Licht und Wolkenzug haben unbehindert Durchgang, die Sonne schlägt auf den Nachmittagsweg, hinaus ins Offene ist geweitet die Sicht. Die Ausfahrt, sie vereist nicht mehr so, fällt dir ein, und was das ausmacht, denkst du, daß zwei Bäume weniger Nadeln haben, weniger im Grün stehen; aber du denkst auch, hast du die Ausfahrt hinter dir, daß das, was einen Nadelbaum lichter macht, mehr durchlässig für Licht, daß das ja sein Ende ist, daß der Holzfäller schon bestellt ist, daß Licht das abgemagerte Gehölz hin nur so lange durchfällt, wie der Fäller ausbleibt —

Archäologen photographieren Gräber, Knochen in Gräbern, Knochen zuhauf aus Gräbern, photographieren Jahrhunderte in Knochenhaufen. Ich photogra-phiere die Fichten nicht, die links nicht, die rechts nicht. Ich photo-graphiere nicht ihre verdorrende Hilflosigkeit.

Man geht mit Bäumen um, als seien sie Sachen. Weil man mit Leben umgeht, als sei es eine Sache. Rein sachlich beurteilt, sagt er und nennt die Paragraphen seiner Vorschrift, und fachlich, sagt er, und ressortzuständig, sagt er — und die Fichte links und die rechts können, sterbend Tag für Tag, im Nadelrest den Lichtandrang nicht mehr aufhalten.

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