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Der Brotkorb hing am dünnen Haar

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Kriegsende 1945: Besatzung, Not und Hunger. Österreich braucht Hilfe. Die erste wäre um ein Haar gescheitert. Warum? Woran? Ein noch wenig bekanntes Kapitel unserer Zeitgeschichte.

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Kriegsende 1945: Besatzung, Not und Hunger. Österreich braucht Hilfe. Die erste wäre um ein Haar gescheitert. Warum? Woran? Ein noch wenig bekanntes Kapitel unserer Zeitgeschichte.

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Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war von einer Reihe von Hilf s- und Wiederaufbauprogrammen für das zerstörte Nachkriegseuropa gekennzeichnet, die in erster Linie von den USA finanziert wurden. Die bekannteste dieser Wiederaufbauhilfen war der Marshallplan, aber auch vorher gab es Hilfsprogramme, deren Bedeutung nicht geringgeschätzt werden darf.

Diese Hilfsprogramme brachten auch ein bis dahin neues Element in die US-Außenpolitik, das bis heute nichts an Aktualität verloren hat: die Vergabe von Wirtschaftshilfe an „gefährdete” Staaten, um diese ökonomisch und politisch zu stabilisieren; Wirtschaftshilfe als Mittel politischer Einflußnahme.

Um die Wurzeln für diese Entwicklung zu finden, ist es notwendig, in das Jahr 1943 zurückzublenden, das Gründungsjahr der „United Nations Relief and Rehabilitation Administration” (UN-RRA, zu deutsch: Verwaltung der Hilfs- und Aufbauarbeit der Vereinten Nationen).

Die UNRRA-Hüfe - das erste dieser Hilfsprogramme — wurde im November 1943 von den 44 gegen Hitler-Deutschland allnerten und assozüerten Nationen ins Leben gerufen. Ziel der UNRRA-Tä-tigkeit war es, die Hilfe für die Zivilbevölkerung in jenen Gebieten, die mit dem herannahenden Kriegsende unter die Kontrolle der Alliierten Mächte kamen, zu planen und durchzuführen.

Es handelte sich dabei in erster Linie um Lebensmittellieferungen, ärztliche Betreuung der Zivilbevölkerung und die Erfassung und Versorgung der verschleppten Personen und Flüchtlinge. Die Tätigkeit erstreckte sich also nur auf „befreite” Gebiete, nicht auf Feindesstaaten.

Die UNRRA-Hilfsaktion kann ohne Einschränkung als humanitäres Hilfsprogramm gesehen werden, weiterreichende politische Zielsetzungen waren damit nicht verbunden. Vor allem aber handelte es sich um ein Hilfsprogramm einer internationalen Organisation, auch wenn 73 Prozent der Gelder aus US-Kassen stammten. Dies war letztlich auch der Grund, warum UNRRA über kurz oder lang mit der Eskalierung des Kalten Kriegs zum Scheitern verurteilt war. Die UdSSR war nämlich neben anderen Staaten einer der Hauptnutznießer der UNRRA.

Darüber hinaus konnten die USA als Hauptgeldgeber, aufgrund des internationalen Charakters der UNRRA-Organisati-on, nur beschränkt über die Vergabe „ihrer” Gelder verfügen, dementsprechend beschränkt war auch die politische Einflußnahme der US-Administration.

In den Jahren 1943 bis 1945 hatte sich die internationale politische Landschaft gründlich verändert. Aus den ehemaligen Allüerten waren Gegner geworden, deren politisch-ideologische Gegensätze im Zunehmen begriffen waren. Zum Zeitpunkt der Einbeziehung Österreichs in das UNRRA-Pro-gramm (1. April 1946) war in Regierungskreisen in Washington die Entscheidung über die Zukunft der UNRRA längst gefallen: die US-Zahlungen für UNRRA sollten mit Jahresende 1946 eingestellt werden - was auch geschah.

Erste Bestrebungen, Österreich in das UNRRA-Programm einzu-beziehen, gab es schon im Frühjahr 1945. Nun erhob sich allerdings die Frage nach dem internationalen Status Österreichs.

Konnte Österreich, das „an der Seite Hitler-Deutschlands am Kriege teilgenommen hatte”, wie es in der Moskauer Erklärung vom 1. November 1943 unmißverständlich ausgedrückt wurde, als ein zu befreiendes Land bezeichnet werden? Oder fiel es in die Kategorie der Feindesländer?

In derselben Moskauer Erklärung war Österreich allerdings auch als ein Land bezeichnet worden, „das von deutscher Herrschaft befreit werden sollte”. Die internationale Stellung Österreichs scheint also noch im Frühjahr 1945 keineswegs klar gewesen zu sein.

Amerikanische Dienststellen, die mit der Nachkriegsplanung für Österreich beschäftigt waren, erwogen sogar, sich bei Österreich auf ein Land mit einer „gefangengenommenen Regierung” (captured government) zu beziehen, um die Bedingungen für eine Teilnahme Österreichs am UNRRA-Programm zu erfüllen. Letztlich setzte sich aber doch der Terminus „befreites Land” durch, und am 22. August 1945 wurde ein von den USA eingebrachter Resolutionsvorschlag vom UNRRA-Rat angenommen.

Die Begeisterung in Österreich war groß, nicht nur wegen der Aussicht auf zukünftige Lebensmittellieferungen, sondern auch wegen der Bezeichnung als ein „befreites Land”. Die Bundesregierung sah in dieser Resolution eine aus internationalem Munde kommende Definition der bisher unklaren internationalen - Stellung Österreichs.

Die Verhandlungen um ein UN-RRA-Abkommen mit Österreich sollten sich bis März 1946 hinziehen. Als einer der Hauptstreitpunkte erwies sich die Frage nach dem Beginn der UNRRA-Tätigkeit.

Sowjets, Franzosen und Briten befürworteten eine möglichst rasche Ubergabe der Verantwortung von Lebensmittelimporten an UNRRA, sahen sie sich doch in ihren eigenen Ländern vor schwierige ernährungspolitische Probleme gestellt. Bis zur Übernahme der Lebensmittelimporte durch UNRRA waren die Besatzungsmächte zumindest moralisch verpflichtet, die Versorgung der Bevölkerung mit einem Mindestmaß an Nahrungsmitteln sicherzustellen.

Die Amerikaner hingegen, die über weit mehr Lebensmittelreserven als die anderen Besatzungsmächte verfügten, waren der Meinung, daß der UNRRA-Start erst dann erfolgen sollte, wenn sich die UNRRA-Nah-rungsmittel bereits im Lande befänden. Plädierten Mark Clark, der US-Hochkommissar, und Ralph H. Parminter, Chef der UN-RRA-Organisation in Österreich, für den UNRRA-Start am 1. Mai oder 1. Juni 1946, so schlugen die Briten schon den 1. Februar vor und fanden bei Franzosen und Sowjets vollste Zustimmung.

Der Kompromiß, der gefunden wurde, sollte sich im nachhinein als Bumerang auswirken. Als Beginn der UNRRA-Tätigkeit wurde der 1. April 1946 festgesetzt mit der Auflage, daß jede Besatzungsmacht UNRRA-Lebensmit-tel für zwei Monate zur Verfügung zu stellen habe, da vor Juni 1946 keine „UNRRA-Lebensmit-tel” aufgrund organisatorischer

Schwierigkeiten erwartet werden konnten. Das Problematische an diesem Kompromiß war seine Undurchführbarkeit, denn es gab eben nur von Briten und Amerikanern Nahrungsmittelimporte in ihre Zonen (im Rahmen der militärischen Versorgungsprogramme). Franzosen wie auch Sowjets importierten praktisch nichts, letztere vor allem mit der Begründung, daß in Rußland selbst eine große Nahrungsmittelknappheit bestehe und Nächstenliebe zuerst im eigenen Land beginnen müsse.

Was geschah also am 1. April 1946? Von den vereinbarten Lebensmittelübergaben für zwei Monate (ca. je 48.000 Tonnen/Zone) stellten Amerikaner und Briten die entsprechenden Mengen UNRRA zur Verfügung. Die Franzosen steuerten 3000 Tonnen, die Sowjets 12.000 Tonnen bei, was ein Defizit von ca. 80.000 Tonnen

Lebensmittel ergab. Durch die gleichmäßige Verteilung der vorhandenen Lebensmittel ergab sich in der amerikanischen und britischen Zone eine Reduktion des Kalorienniveaus, in der russischen und französischen hingegen eine leichte Erhöhung. Was de facto durch die Übernahme von UNRRA geschah, war ein Abfließen der relativ reichlichen Nahrungsmittelimporte der Amerikaner und Briten in die russische und französische Zone.

Genug Brisanz für General Clark, das ganze UNRRA-Programm in Frage zu stellen. Clark vertrat daher auch die Meinung — und er wurde diesbezüglich vom US-Kriegsministerium (War Department) unterstützt -, daß es durchaus gerechtfertigt sei, wenn er eine gewisse Menge von Nahrungsmitteln von der Ubergabe an UNRRA zurückhalte, um wenigstens einen Kaloriensatz von 1550 Kalorien/Person in seiner Zone halten zu können.

Das US-Außenministerium gab jedoch andere Anweisungen: auch wenn das UNRRA-Pro-gramm nicht ausreiche, „Hunger, Krankheit und Aufruhr zu verhindern”, rechtfertige dies weder Militärimporte zusätzlicher US-Nahrungsmittel ausschließlich in die amerikanische Zone noch das Zurückhalten verfügbarer Nahrungsmittel von der geplanten Ubergabe an UNRRA und der damit in die Wege geleiteten gesamtösterreichischen Zusammenlegung aller Nahrungsmittel.

Man sieht deutlich, wie das US-Kriegsministerium mehr auf das Wohlergeben des eigenen Verantwortungsbereiches (d. i. die US-Zone) bedacht war, das US-Außenministerium hingegen den gesamtösterreichischen Aspekt in Rechung stellte.

Ein weiteres Hindernis, wodurch das ganze UNRRA-Pro-gramm um ein Haar am Vorabend der Unterzeichnung des UNRRA-Vertrages geplatzt wäre, war eine von der UdSSR durchgeführte Landrequisition. Die Sowjetunion forderte im Februar 1946 von der Bundesregierung 27.000 Hektar Land zur Nahrungsmittelversorgung der eigenen Truppen, 100.000 Menschen hätten damit ein Jahr lang mit 1.550 Kalorien versorgt werden können. Diese Vorgangsweise verstieß selbstverständlich gegen die Prinzipien der UNRRA-Politik, die darin bestanden, erst nach vollster Ausnützung der einheimischen Ressourcen das noch verbleibende Defizit zu decken.

Im US-Außenministerium überlegte man daraufhin ernsthaft die Erstellung eines „Alternativprogramms” nur für die westlichen Zonen. Auf britischen Druck hin und sicherlich zum Wohle Österreichs wurde dieser Plan dann fallengelassen.

Die USA verlangten daraufhin die Formulierung einer Resolution im UNRRA-Rat, die Requisitionen jeglicher Art in Ländern, in denen UNRRA tätig war, verbieten sollte. Die Resolution Nr. 91, die wenige Tage vor der Unterzeichnung des UNRRA-Abkom-mens gegen die Stimme der UdSSR und mit Enthaltung Frankreichs beschlossen wurde, sollte sich als unwirksam erweisen, aber der UNRRA-Start am 1. April 1946 war gerettet.

Das UNRRA-Programm begann somit am 1. April 1946, einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, da es im Frühjahr 1946 eine weltweite Nahrungsmittelkrise gab. Zusätzlich kamen nun noch die fehlenden Nahrungsmittelübergaben der Franzosen und Sowjets an UNRRA zum Tragen. So kam die paradoxe Situation zustande, daß sich mit Übernahme der von der österreichischen Bevölkerung ersehnten UNRRA-Hilfe die Situation merklich verschlechterte.

Fast ein Generalstreik

Es ist also durchaus zu verstehen, daß die Wellen der Empörung hochschlugen, als Mitte Juni 1946 zwei vormals für Österreich bestimmte Weizenschiffe nach Italien umgeleitet wurden. Noch größer jedoch war die Empörung, als Anfang Oktober angekündigt wurde, daß in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands die Rationen mit 14. Oktober 1946 auf 1.550 Kalorien angehoben würden (in Österreich lagen sie zu diesem Zeitpunkt noch immer bei mageren 1.200 Kalorien). Es gab etliche ungesetzliche Streiks. Viele Arbeiter konnten nicht glauben, daß ein ehemaliges Feindesland höhere Rationen als das „befreite” Österreich haben sollte. Ubereilt wurde ein Treffen der Gewerkschaftsführer einberufen. Die Wiener kommunistischen Gewerkschaftsfunktionäre befürworteten einen Generalstreik, wurden aber niedergestimmt.

Bundeskanzler Leopold Figl sah sich genötigt, UNRRA-Ge-neraldirektor LaGuardia persönlich ein Telegramm zu senden, in welchem er um erhöhte Nah-rungsmittelzuteüungen für Österreich bat, so daß es möglich sei, ebenfalls mit 14. Oktober die Rationen auf 1.550 Kalorien zu heben, „um Ruhe und Ordnung im Herzen Europas zu erhalten”. Figl sah sich in dieser prekären politischen Lage auch gezwungen, „Fliegende Kommissionen” einzusetzen, die jedes Bauernhaus zu überprüfen hatten und nach versteckten Nahrungmitteln absuchen sollten. Erst am 10. November 1946 gelang es, die Rationen auf 1.550 Kalorien anzuheben.

Trotz dieser negativen Erfahrungen muß die Bedeutung der UNRRA hoch angesetzt werden. Einmal wegen des Lernprozesses der US-Administration, die für zukünftige Hüfsprogramme von internationalen Organisationen absah und bilaterale Arrangements vorzog, zum anderen in be-zug auf Österreich, wurde doch durch die UNRRA-Hüfe der Grundstein für einen gesamtösterreichischen Wiederaufbau gelegt.

Eine zukünftige US-Wirt-schaftshüfe sollte der österreichischen Regierung für ganz Österreich (und nicht nur für die westlichen Zonen) angeboten werden, ein Umstand, der nicht unwesentlich zur Erhaltung eines geeinten Österreich beitragen sollte.

Wilfried Mähr, Vertragsassistent bei Univ.-Prof. Gerald Stourzh am Institut für Geschichte an der Universität Wien, erarbeitete eine Dissertation zum Thema „Von der UNRRA zum Marshallplan. Die amerikanische Finanz- und Wirtschaftshilfe an Osterreich in den Jahren 1945 bis 1950” (Wien 1985).

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