7227358-1993_49_24.jpg
Digital In Arbeit

Der zensurierte Minnegesang

19451960198020002020

Daß die Literatur des Mittelalters keineswegs nur kreuzbrav war, ist am unzensurierten Werk des erfolgreichsten Lyrikers des Mittelalters, Neidhart, zu erkennen.

19451960198020002020

Daß die Literatur des Mittelalters keineswegs nur kreuzbrav war, ist am unzensurierten Werk des erfolgreichsten Lyrikers des Mittelalters, Neidhart, zu erkennen.

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht immer scheint die Nachwelt behutsam mit den Schätzen der Vergangenheit umzugehen. So hat auch der Minnesänger Neidhart, den Experten als den wahrscheinlich bedeutendsten und folgenreichsten Lyriker des Mittelalters einschätzen, bei nachträglichen Bearbeitungen durch Philologen Federn lassen müssen. Grund dafür ist, laut Ulrich Müller vom Salzburger Institut für Germanistik, ein seit der ersten Hälfte des 19, Jahrhunderts festverwurzelter Glaube, „daß uns vor allem die großen Werke des Mittelalters in einer durch dumme Schreiber und vielerlei Überlieferungsfehler verunreinigten Form überliefert worden seien”.

Insbesondere jene Stellen, die den Germanisten als schlecht oder unanständig erschienen, wurden als spätere Zudichtung abqualifiziert und ausgeschieden. Ein Paradebeispiel dafür ist die einzige bisher existierende wissenschaftliche Edition aus dem Jahre 1858, die von Moritz Haupt „bearbeitet” herausgegeben wurde. Darin fehlen etwa 60 Prozent des Neidhartschen CEuvres. Aus diesem Grund bemüht sich Müller und sein Team, dem auch Ingrid Bennewitz und Franz Viktor Spechtler angehören, um eine vollständige Edition der von Neidhart überlieferten Texte (der allgemein geläufige Beiname „vom Reuental' wurde ihm übrigens aufgrund einer Fehlinterpretation zu umecht verliehen). „Es zeigt sich immer wieder”, so Ulrich Müller, „daß das tatsächlich Überlieferte wirkungsvoller, kräftiger und lebendiger ist, als das von den Philologen am Schreibtisch Bearbeitete”. Dies wird auch bei einer genaueren Betrachtung der Neidhartschen Lieder deutlich.

Neidhart, der zu Beginn jdes 13. Jahrhunderts im Alpenvorland sein Schaffen entfaltete, griff mit erfrischender Offenheit Themen aus dem höfischen und bäuerlichen Leben auf und sang mitunter auch über so derbe und exzessive Ereignisse wie einer Aufforderung zum Ehebruch oder einer Dorfrauferei. Er führte dabei eine sehr spitze Zunge, die auch vor grober Komik und „karnevaleskem Schelmentum” nicht zurückschreckte.

Rebellischer Minnesänger

Trotz der ungekünstelten Obszönität, die an vielen Stellen zu Tage tritt und auch das Bild des Minnegesangs, so wie es sich in unseren Schulbüchern findet, etwas revidie-rangsbedürftig macht, war Neidhart ein höchst geistreicher und literarisch außerordentlich begabter Dichter, wie Ulrich Müller betont. Dies zeigt sich nicht nur an seinem breiten Wortschatz, sondern auch an der kunstvollen Konstruktion seiner Verse. Hinter der Derbheit seines Werkes versteckt sich vielmehr ein antihöfisches Ansinnen.

Neidhart muß, nach der Einschätzung Müllers, ein sehr rebellischer, aufmüpfiger Sänger gewesen sein. Die heute oft banal anmutenden Inhalte und Aussagen seiner Lieder lassen sich bereits dadurch, daß sie vor einem höfischen Publikum vorgetragen wurden, als ein kritischer Spiegel verstehen, der am Selbstverständnis des Adels rüttelte. Ein für damalige Zeit wahrscheinlich geradezu revolutionäres Unterfangen. Hinzu kommt, daß Neidhart in seinen Liedern als moralisch höchst ambivalente Person auftrat und dadurch einer Schwarz-Weiß-Malerei vorbeugte. So ist es auch leicht zu verstehen, daß das Forschungsteam die Bedeutung von Neidhart und seiner bislang zensurierten Lieder gar nicht oft genug betonen kann.

In der zweibändigen Salzburger Edition, die vom FWF gefördert wird, sollen nun sämtliche der 1.500 erhaltenen Strophen und 55 Melodien des spätmittelalterlichen Liedermachers vollständig entschlüsselt und alle existierenden Fassungen lesefreundlich aufbereitet werden. Der Leser kann so selbst entscheiden, welche Texte von Neidhart persönlich stammen oder ihm nur von Zeitgenossen in den Mund gelegt wurden. Das Manuskript für den wichtigeren Teil der Edition, nämlich jener 70 Lieder, die in der alten Ausgabe von 1858 völlig ausgeklammert wurden, soll Anfang 1994 in gedruckter Form vorliegen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung