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Die Bulgaren „hungern" besseren Zeiten entgegen

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Unter den Öspizien des Internationalen Währungsfonds und der Amerikanischen Handelskammer wurde im ersten Halbjahr 1991 in Bulgarien die Reform des Wirtschaftssystems in Angriff genommen. Sie weist alle Anzeichen einer „Super-schocktherapie" auf. Noch sind die Bulgaren geduldiger als ihre rumänischen Nachbarn.

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Unter den Öspizien des Internationalen Währungsfonds und der Amerikanischen Handelskammer wurde im ersten Halbjahr 1991 in Bulgarien die Reform des Wirtschaftssystems in Angriff genommen. Sie weist alle Anzeichen einer „Super-schocktherapie" auf. Noch sind die Bulgaren geduldiger als ihre rumänischen Nachbarn.

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In den Monaten Jänner bis August schrumpfte der Gesamt-Output Bulgariens um nicht weniger als 22,6 Prozent, die industrielle Produktion verringerte sich in diesem Zeitraum gegenüber der Vorjahresperiode um rund 30 Prozent. Für 1991 muß mit einem Rückgang des GDP um zirka 26 Prozent gerechnet werden. Dramatisch ist der Rückgang des Lebensstandards: das Realeinkommen wurde den offiziellen Statistiken zufolge halbiert, nach Angaben der Gewerkschaft beträgt der Realeinkommensverlust sogar 60 Prozent.

Während sich die Preise verfünffachten (im August betrug die Inflationsrate zum Vormonat noch immer 7,5 Prozent), hat sich das Lohneinkommen lediglich verdoppelt (der Durchschnittslohn beläuft sich auf zirka 700 Lewa). Ein Hochschulprofessor beispielsweise, der Ende Dezember noch 804 Lewa monatlich bekam, erhielt im August 1.370 Lewa; die Armutsgrenze liegt bei 1.000 Lewa je Monat, das heißt der Durchschnittslohn liegt unter diesem Bezug. Daß es bei der Rechnung der Inflationsrate durchaus auf den Warenkorb ankommt, mögen folgende

Preissteigerungen belegen: so stiegen die Gebühren für den öffentlichen Transport von sechs auf 70 Stotinki und werden im nächsten Monat auf ein Lewa erhöht, die Heizungskosten, die vor einem Jahr noch mit 25 Lewa pro Monat anzusetzen waren, betragen dieses Jahr zwischen 250 und 300 Lewa. Brot, das für 30 und 40 Stotinki erhältlich war, kostet nunmehr 250 bis 320 Stotinki und Fleisch, das ursprünglich vier Lewa je Kilogramm kostete, wird um 26 bis 30 Lewa gehandelt.

Die Arbeitslosigkeit steigt sprunghaft. Von den 3,9 Millionen aktiv Erwerbstätigen waren im Dezember 1990 65.000 ohne Beschäftigung, Ende August 1991 betrug die Anzahl der Arbeitslosen 330.000, das sind rund 8,6 Prozent, zum Jahresende muß mit 450.000 bis 500.000 Arbeitslosen gerechnet werden.

Der Rückgang der Produktion hat auf das Budget fatale Auswirkungen: nur rund 60 Prozent der ursprünglich geschätzten Einnahmen von 65 Billionen Lewa fließen dem Staat zu. Da die Ausgaben mit 73 Milliarden nahezu gleich bleiben, erhöht sich das Budgetdefizit von acht Milliarden auf 33 Milliarden Lewa. In dieser Situation, in der die Unternehmen ums blanke Überleben kämpfen, unterbleiben sämtliche Investitionen. Die ohnedies triste finanzielle Situation der Unternehmen führt durch die sprunghafte Erhöhung der Zinssätze zu einem Finanzdebakel. Die Prime Rate von ursprünglich 4,5 Prozent, stieg auf 52 bis 54 Prozent an. Damit wird noch immer keine Realverzinsung erreicht, jedoch den Unternehmen, deren Kapital zu 60 Prozent aus Fremdmitteln besteht (im Handel beträgt der Anteil der Fremdmittel 80 bis 90 Prozent) eine wohl untragbare Bürde aufgelastet. Der vielfach als Wunderdroge angesehene Ausweg in die Privatisierung ist mit eigenen Mitteln nicht zu bewältigen: dem gesamten Kapitalstock, der auf rund 900 Milliarden Lewa geschätzt wird, stehen Spareinlagen in der Höhe von 6,7 Milliarden Lewa gegenüber.

Auch im Außenhandel steht Bulgarien vor nahezu unüberwindbaren Problemen. Der Außenhandelsumsatz sank um 55 Prozent, mit den COME-CON-Ländern verringerte sich der Außenhandel sogar um 65 bis 70 Prozent.

Bemerkenswert an dieser Situation ist, daß die Bulgaren zwar die Einschränkungen deutlich spüren, jedoch, wohl in der Hoffnung auf eine baldige Besserung, gegen diesen harten wirtschaftspolitischen Kurs gegenwärtig kaum opponieren.

Der Autor ist Ostexperte der Creditanstalt-Bankverein in Wien.

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