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Die Schmäh-Tandler

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Tandler der unpolitische Gesundheitsrat und die nörgelnde Opposition. Mit diesen Ingredienzien wird der Mythos des „Roten Wien“ lebendig erhalten und weitergereicht.

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Tandler der unpolitische Gesundheitsrat und die nörgelnde Opposition. Mit diesen Ingredienzien wird der Mythos des „Roten Wien“ lebendig erhalten und weitergereicht.

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Der ORF bat zur Präsentation. Gekommen waren Wiener Gemeindepolitiker, SP-Zentralse-kretär Peter Schieder und der im Präsidentschaftswahlkampf stehende SP-Gesundheitsminister und Arzt Kurt Steyrer.

Der Fernsehfilm „Julius Tandler“ stand auf dem Programm, die Wiener Politprominenz erwies ihrem Urahn, dem Wiener Gesundheitsstadtrat des „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit, die Ehre, bevor er am Sonntag, dem 8. Dezember, um 20.15 Uhr in FS 1 in Sendung geht.

Sogar der Ort, an den der ORF geladen hatte, war dem Anlaß gemäß: Der Julius-Tandler-Platz in Wien 9.

Peter Patzak, im Jahr eins nach ,J£ottan ermittelt“, führte nicht nur Regie, sondern war auch am Drehbuch beteiligt. Der andere Autor, Karl Sablik, ist Insidern ebenfalls ein Begriff. Historiker, am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Wien, Autor der Biographie „Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer“ und SP-Bürgermeister in seiner niederösterreichischen Heimatgemeinde.

Das Wohlwollen gegenüber dem Sozialreformer und sozialdemokratischen Politiker ist somit gesichert. Für Patzak ist Tandler sogar politisch, menschlich eine Figur mit Vorbildwir-kung.

Wer war nun Tandler? 1896 in Mähren geboren, seit 1910 Lehrstuhlinhaber für Anatomie an der Universität Wien, 1919 Unterstaatssekretär im Volksgesundheitsamt unter Ferdinand Hanusch, wurde er 1920 Gesundheitsstadtrat in Wien und treibende Kraft einer Neuorientierung der Fürsorge- und Sozialpolitik, die internationale Anerkennung verzeichnen konnte.

Unterernährung, Kindersterblichkeit, Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten waren die großen Brocken des Gesundheitswesens, die nach dem Ersten Weltkrieg gelöst werden mußten. Tandler entwarf mit seinen Mitarbeitern das Modell der öffentlichen Fürsorge, die im Gegensatz zur karitativen Fürsorge des Wiens der Vorkriegszeit das Recht des Hilfsbedürftigen postulierte, „an die Gesellschaft zu appellieren“.

Der Film ist aber nicht nur historische Analyse eines außergewöhnlichen Politikers in einer

Umbruchszeit. Er ist vielmehr die Fortführung des in den letzten Jahren aufgebauten Mythos des JAoten Wien“ mit anderen Mitteln. Der Mythos Tandler entsteht, die konkrete Person verschwindet dahinter.

Während der Film Tandlers konzeptive Neugestaltung des Fürsorgewesens in breiten Passagen wiedergibt, gelingt es fast vollständig, den Politiker Tandler zu verstecken. Lediglich die Aussage „Die Partei steht hinter Ihnen“ ist zuwenig, um Tandlers Verankerung in der sozial-demokratischen Partei und das teilweise nicht unerhebliche Desinteresse oder Unverständnis gegenüber seinen Vorstellungen zu beleuchten.

Auch der Finanzstadtrat Hugo Breitner, der mit seiner Steuerpolitik die indirekten „Massensteuern“ durch direkte „Luxussteuern“ ersetzte, ist im Film kein klassenbewußter Parteigenosse, sondern eher Tandlers Freund, der ihm die Erfüllung seiner Wünsche finanzierte.

Die christlichsoziale Opposition hingegen wird „entlarvt“ und hat auch einen Namen: Alma Motzko. Stets streitsüchtig opponierend, ist sie Inbegriff der negativen Opposition. Aber auch lernfähig und sogar beschämt bis bedrückt, daß sie gegen den „guten Menschen von Wien“ ankämpfen muß.

Auch die Kameraführung läßt mitunter deutlich werden, wo die Sympathien Patzaks liegen. Beim Auftritt im Gemeinderat gerät Alma Motzko optisch unversehens zur höhnischen Grimasse.

Daß diese Art, Vergangenheit zu gestalten, doch an Grenzen stößt, merkten auch die Programmmacher im ORF und produzierten einen Nachspann, in dem der christlichsozialen Politikerin und Grande Dame der Zweiten Republik wenigstens teilweise Genugtuung widerfährt.

Wo Tandlers politischer Hintergrund verwischt wird, muß ein anderes Erklärungsmodell für sein Wirken herangezogen werden: Der Freimaurer Tandler. Während er nie in einem Parteigremium gezeigt wird, darf er zweimal im Kreise seiner Brüder auftreten.

Dieses unpolitische Politikerporträt, das mosaikartig aus Episoden zusammengesetzt ist und durch die Gegenüberstellung von „unpolitischem“ Humanismus und „politischer“, sprich nörgelnder Opposition ein eigenartig undemokratisches Politikbewußtsein signalisiert, hinterläßt einen farblosen Eindruck. Einerseits ist es überfrachtet mit Aussagen, Personen und Situationen, andererseits gelingen einzelne Sequenzen alles andere als dicht.

Die „schlagenden“ Studenten protestieren gegen Juden und ihren jüdischen Professor. Im Bild sind einige dieser deutschnationalen Exemplare, die Tandler und sein Gefolge aber in die Universität einlassen. Dann holt Tandler die Feuerwehr, um seine Assistenten über Leitern aus dem Gebäude zu retten. Daß Lebensgefahr bestand, wird aber auf keinem Meter Film sichtbar.

Ein Meisterwerk ist der Film keinesfalls — auch wenn die Rolle des Julius Tandler mit Wolf gang Hübsch hervorragend besetzt ist— dafür aber wartet er mit Anklängen an plakative Propagandafilme auf — mit klarer Verteüung von gut und böse.

Tandler, gegen Ende des Filmes vom harten Leben des Politikers gezeichnet und krank, schmerzt es, selbst „ein Fall“ für die Medizin zu werden. Ob ihm seine filmische Darstellung schmerzen würde? Als sozialdemokratischer Politiker sicher nicht.

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