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Furchterlicher Knabe Victor

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Zu den Vorläufern des sogenannten absurden Theaters von Beckett und Ionesco werden Alfred Jarry, Guil-laume Appollinaire, Antonin Artaud und Roger Vitrac gezählt. Das bekannteste Stück von Vitrac, der 1952 mit 53 Jahren starb, ist das bürgerliche Schauspiel „Victor oder Die Kinder an der Macht“, das 1928 im Theätre Alfred Jarry unter der Regie von Artaud uraufgeführt wurde. Vor 13 Jahren lernte man es im Ateliertheater kennen, nun sieht man es im Akademietheater.

Bürgerliches Schauspiel? Der Kritiker Kenneth Tynan nannte es eine ungeheure anti-bourgeoise Entladung. Der Musterknabe Victor, der an seinem neunten Geburtstag, mehr als frühreif, ein Unmaß an bösen Trieben entfesselt, zum Monster wird, bringt unter munterer Beihilfe der sechsjährigen Esther die Fassade des Elternhauses zum Einsturz, hinter der sich falsche Gefühle, Selbsttäuschung und Verlogenheit, heroische Gesten und Posen, eheliche Untreue und geheime Gier verbergen. Den General, Freund des Hauses, läßt Victor am Boden kriechen, damit er auf ihm reiten kann. Die attraktiv hübsche Ida Totemar gibt ungewollt üble Gerüche lärmend von sich, ihr unerwartetes Auftreten hat bei den Anwesenden Todesfälle im Gefolge, auch den von Victor.

Vorläufer des absurden Theaters? Das Verbale verliert an Bedeutung, es gibt Sätze, die unverständlich sind, man darf nicht nach Logik fragen, Psychologie ist ausgeschaltet, Alptraumhaftes wechselt mit billigem Ulk. Das reicht nicht tief, verlogene Bürgerlichkeit wird ingrimmig mit den Mitteln des Abstrusen gewissermaßen massakriert, während in den besten Stücken des absurden Theaters existentielle Grundsituationen des Daseins sichtbar gemacht wurden. Vitrac reicht nicht tief, er schrieb in diesem „Schauspiel“ Anti-Boulevard, zog sich aber später zum Boulevard zurück. Es kam zum Bruch mit Artaud.

In krassem Gegensatz zur brüchigen Todes weit des Stücks ließ Regisseur Hans Neuenfels auf der Szene durch den Bühnenbildner Karl Kneidl in feierlicher Frontalwirkung von Tisch und Gestühl, später eines mächtigen Doppelbetts, weiters eines Vorhangs mit messerscharfen lotrechten Falten, eine beinahe gleißend helle Welt entstehen. Das freche Dunkel des Stücks wird noch dunkler. Die Kostüme von Dirk von Bodisco ordnen sich der Inszenierungsidee ein.

Klaus Maria Brandauer hat den bösen Elan des Victor, Erika Pluhar die naseweise Keckheit der Sechsjährigen. Victors Eltern: Rudolf Melichar und Annemarie Düringer, erweisen die unterschiedliche Haltung des Ehebrechens und der wissentlich Betrogenen. Esthers Eltern: Paola Loew ist die attraktive Gattin des von Robert Meyer gespielten cholerisch-irren Gatten. Puppenhaft wirkt Gusti Wolf als Ida Totemar. Erich Aberle macht einen stupiden General glaubhaft. Susi Niko-letti gibt ein ältliches Hausmädchen, Bibiana Zeller und Fritz Hakl ergänzen die Reihe der Darsteller.

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