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Gelächter im Labyrinth

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Im Jahr 1885, vor hundert Jahren, kam der polnische Schriftsteller Stanislaw Ignacy Witkie-wicz (Witkacy) zur Welt. Vor 46 Jahren, am 18. September, erreichte seine tief veranlagte Todessehnsucht ihren Höhepunkt. An diesem Tage, im tragischen September 1939, verübte er Selbstmord.

Witkiewicz wuchs im Kreis bedeutender polnischer Künstler auf. Er war überempfindlich, neurotisch, neigte schon früh zum phüosophischen Denken, war künstlerisch begabt, studierte Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Krakau. Der Erste Weltkrieg traf ihn in Rußland an, und auch dort wurden ihm die Richtungen der künstlerischen Avantgarde vertraut. Die Zeit seiner größten Aktivität fällt in die Jahre 1919 bis 1922. In dieser Zeitspanne entstanden drei theoretische Werke, und der größere Teil seiner (über 30) Dramen.

Witkiewicz war ein seltsamer, ein unruhiger, gegen alles und für alles kämpfender Individualist. Er brach festgesetzte Strukturen der künstlerischen Begriffe und auch der Mitteln, er enthüllte die Leere der herkömmlichen Literaturformen, rüttelte an fragwürdig gewordenen Werten, war gegen jegliche Symptome der sogenannten „Sklerose der vorhandenen Zeit“.

Seine Theorie der „reinen Form“ brachte ihm den Ruf eines Doktrinärs ein. Manche bezeichneten ihn als „einen genialen Gra-phomanen“. Seine Philosophie, die sich vor allem mit der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt befaßt, versucht, den traditionellen Idealismus mit dem Materialismus zu verflechten.

Witkiewicz schockierte, demoralisierte auch, wie manche behaupten, er erweckte die Aufmerksamkeit der Künstler. Dem breiteren Publikum blieb er völlig unbekannt. Er überholte seine historische Epoche — sowohl im theoretischen Kunstverständnis als auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Reflexion; er überwand die geistige Atmosphäre Polens der Zwischenkriegszeit.

Witkiewicz hatte die Absicht, die Kunst zu reformieren. Sein Pessimismus, seine Katastrophentheorie, die das baldige Ende der Welt verkündeten, konnten mit keiner breiteren gesellschaftlichen Anerkennung rechnen. Unnachgiebig kämpfte er gegen die Rührseligkeit, gegen unechte Gefühle. Die Liebe hat in seinen Werken (sowohl in Prosa als auch in den Dramen) besonders dunkle Farbtöne, sie wird düster geschildert. Die Schönheit des Lebens bekommt meistens ein vielsagendes Anführungszeichen. Die Helden von Witkiewicz verlangen nach der Fülle der „aktuellen Unendlichkeit“.

Er versucht den Punkt zu finden, in dem das Dasein, und das Nicht-Dasein, das Leben und der Tod, sich zu einer „heiligen Einheit“ verbünden. Verbindungen zwischen dem Werk von Witkiewicz und dem von Strindberg sind oft Gegenstand kritischer Untersuchungen gewesen. Es gibt tatsächlich eine gewisse Verwandtschaft zwischen den Welten der beiden Künstler, eine ähnliche Art, Motive zu ergreifen, wobei Witkiewicz nicht als Epigone betrachtet werden kann. Jan Kott, der bekannte polnische Ästhetiker, behauptet, daß Witkiewicz die Zerstörung des naturalistischen Theaters fortsetzt und daß er an dem Punkt beginnt, an dem Strindberg anhält. Mit anderen Worten: Was bei Strindberg Vorahnung war, wurde bei Witkiewicz zum verbitterten Kunstwerk — hier vollzieht sich der Zusammenbruch der Welt, der Verfall der üblichen Werte. Das Lachen des Menschen entspringt der Verzweiflung. Die eigentümliche Härte seiner Sprache, ihre brutale Schärfe, ihre Neigung an der Grenze zwischen dem Heiligen und dem Frivolen zu balancieren, gibt den Werken den fiebrigen Rhythmus, formt das Büd finster glühenden Lebens.

Witkiewicz gehört zu den eigenwilligsten Dramatikern des 20. Jahrhunderts. Seine Stücke wurden in den letzten Jahrzehnten in 17 Sprachen übersetzt, in vielen Ländern gespielt, und haben dennoch niemals den Erfolg gehabt, der ihrem Wert entspräche. Sie bilden ein geschlossenes System, und die Hauptgestalten richten sich nach den Gesetzen dieser inneren Welt und nicht nach den Regeln unseres täglichen Lebens. Das Verstehen dieser Stücke erfordert Anstrengung und intellektuelle Vorbereitung. Nach wie vor bleibt der Schriftsteller schwer verständlich und schwierig: ein Klassiker mit dem Recht auf Narrenfreiheit.

Die für ihn charakteristische groteske Art der Darstellung zeigt nicht nur die Eigenheit der wirklichen und der erfundenen Welt, sondern stellt auch die Darstellung selbst in Frage. Alles löst sich auf. Dadurch wird nicht nur der Held, nicht nur die Gesellschaft, in der er lebt, ad absurdum geführt, sondern auch die Form, in der sie dargestellt wurden. Stirbt das Individuum, so stirbt mit ihm auch die Gemeinschaft und mit dieser auch das Kunstwerk. Witkiewicz zögert nicht, den Zerrspiegel, den er uns vorhält, zu zerbrechen.

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