Die Macht der Tyrannen

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Tyrannen werden nicht geliebt und können selbst nicht lieben. Das wusste bereits der junge Étienne de la Boétie.

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Tyrannen werden nicht geliebt und können selbst nicht lieben. Das wusste bereits der junge Étienne de la Boétie.

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Alexej Nawalny ist tot. Die Ursachen seines Todes sind dunkel. Nicht aber das Schicksal eines Mannes, dessen Leben heute als mutiges Symbol demokratischer Hoffnung leuchtet im Zeitalter der Tyrannen. Wie konnte eine Nation den Tod ihrer Hoffnung zulassen? Wie kam es überhaupt zu diesem Zeitalter neuer Tyrannei?

Als der junge Étienne de la Boétie 1550 einen Traktat über die „freiwillige Knechtschaft des Menschen“ schrieb, hatte er bereits erkannt, dass die Macht der Tyrannen nicht allein in der Knechtung des Volkes lag. Ein schlechter Fürst mag durch einen Gewaltstreich an die Macht kommen, durch Erbrecht oder durch den Wahlakt eines Volkes. Sein Geheimnis aber liegt nicht in der Machtergreifung, sondern in der Machterhaltung. Und diese, meinte der Autor des Traktats, geschehe nur durch die Selbsterniedrigung seiner Getreuen: „Wenn sich die Bösen versammeln, sind sie nicht Genossen, sondern Helfershelfer.“ Sie sind die selbstgeknechteten Knechte eines Herrn, um dessen Gunst sie betteln, während sie ihm das Recht geben, „allen alles zu nehmen“. Ein Tyrann wird nie geliebt, noch kann er lieben. Seine herzlosen Helfershelfer handeln nicht nur aus Furcht. Sie wollen auch teilhaben an der Macht.

Als der Prophet Jesaja vom Gottesknecht sprach, hatte er eine andere Knechtschaft im Sinn. Einen Knecht der Freiheit von aller menschlichen Macht, einen Diener nur jenes Fürsten, der die Gefangenen befreit und die Erniedrigten aufrichtet – mattir assurim und zokef kefufim. Wir brauchen heute wieder Knechte des Mutes und der Hoffnung, Menschen, die uns stets daran erinnern, was de la Boétie einst wusste: „Der Mensch, welcher euch bändigt, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte.“

Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.

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