Eine neue Diaspora-Nostalgie

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Die jüdische Diaspora im Laufe der Zeit.

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Die jüdische Diaspora im Laufe der Zeit.

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Heinrich Heine nannte die Bibel ein „portatives Vaterland“. Für die Juden des Exils war die Tora Territorium, eine Art geistige Souveränität im landlosen Leben. Der jüdische Historiker Simon Dubnow nahm diesen Gedanken wieder auf und schuf um 1900 die wohl bekannteste Form diasporischer Identität: Das nationale Bewusstsein kultureller, exterritorialisierter Autonomie. Den Zionismus betrachtete Dubnow als Rückfall in ein primitives Stadium der Nationalität. Seine Gedanken prägten die jüdische Arbeiterpartei der sogenannten Bundisten, deren Programm der Doikeit – des Hierdaseins – einen jiddischen Leitspruch hatte: Dort’n wo mir leb’n, dort iz unzer land!

Dieser Leitspruch ist in letzter Zeit wieder häufig zu lesen: Nicht auf den Bannern jüdischer Arbeiter, sondern aus der Feder jüdischer Intellektueller. Aus Zweifel am Zionismus, aus Sehnsucht nach subalterner Solidarität, aus Kritik am kapitalistischen Machtstaat entstand eine neue Diaspora-Nostalgie. Es ist keine naive Nostalgie, sondern ein moralisches Ringen mit der Gewalt eines jeden Staates, aber eben besonders mit der des jüdischen. Dass man diesen jüdischen Nationalstaat abschaffen und zugleich einen palästinensischen herbeiwünschen möchte, ist der Zauber dieses neuen Diasporismus. Dass aber ein bequemes Leben in der Diaspora nicht immer selbstverständlich ist, sondern auch ein prekäres Privileg sein kann, dies vergessen manche Bundisten von heute. Und dass kein Staat statisch ist, sondern eine moralische Aufgabe bleibt, dies gilt nicht nur für Israel.

Muss Diaspora unbedingt ein Idealbild sein? Genügt nicht ihre Wirklichkeit? Und muss sie sich dem einzigen Staat, der ihr den Rücken hält, unbedingt versagen? Zum Thema Diasporismus selbst aber sagt uns Heine: „Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu …“

Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.

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