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Jugendanwältin als Klagemauer und Sprachrohr der Kinder

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Der Schulbeginn hat für viele Kinder Konflikte gebracht. Andere Sprößlinge und Eltern liegen im Clinch. Ratsuchenden beider Seiten leiht die Kinder- und Jugendanwältin seit über zweieinhalb Jahren ihr Ohr - und spielt zur Not Feuerwehr.

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Der Schulbeginn hat für viele Kinder Konflikte gebracht. Andere Sprößlinge und Eltern liegen im Clinch. Ratsuchenden beider Seiten leiht die Kinder- und Jugendanwältin seit über zweieinhalb Jahren ihr Ohr - und spielt zur Not Feuerwehr.

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Mein Vater ... mein Vater hat hat mit mir ... geschla fen", schluchzt es aus dem Hörer. Endlich ist es heraußen. Die Zuhörerin am anderen Ende der Leitung, Österreichs Kinder- und Ju-gendanwältin, ist Kummer gewohnt. Henriette Naber bleibt ruhig, obwohl auch ihr nach vielen Jahren Sozialarbeit Fälle von sexueller Mißhandlung besonders unter die Haut gehen. Von Lucia, der verzweifelten Anruferin, erfährt sie gerade noch das Alter: 14 Jahre. Da plötzlich knackt es in der Leitung -tütütüt. ... Aufgelegt. „Das kommt öfter vor", erläutert Naber. „Da sind die Eltern plötzlich nach Hause gekommen."

Bald schrillt das rote Telefon wieder. Peter, 11 Jahre, will sich über einen Lehrer beschweren. An die Wand gedrückt habe er ihn. Kein Einzelfall. „Ich unterstelle keinem Lehrer, daß er Sadist ist", hält Naber fest. Aber der Kampf gegen Gewalt an Kindern zählt nun einmal zu ihren Hauptaufgaben. Die Kinder-anwältin als Klagemauer und Sprachrohr, nicht aber - wie fälschlich angenommen - als Rechtsanwaltsersatz. Jeder fünfte Anrufer unter 15 Jahren hat Schulprobleme abseits der Frage „Mit wie vielen Fünfern darf ich aufsteigen?"

So auch die zehnjährige Türkin Miriam. In der Schule im Wiener Nobelbezirk Hietzing habe sie keine Freunde. Auch zu Hause hat sie Schwierigkeiten: Die Eltern sind nicht gerade glücklich, daß Miriam so lebt wie Wiener Kinder. Henriette Naber kontaktiert Miriams Lehre-

rin, die von der Isolation der Türkin nichts bemerkt haben will. In Zukunft, verspricht sie der Anwältin, wird sie Miriams Stellung in der Klasse unterstützen. Oft muß Henriette Naber „den Erwachsenen beibringen, wie s' rieh- -tig mit den Kindern umgehen". Die Ju-gendanwältin als In-tegrations-und Kommunikationshilfe.

Apropos Kommunikation: „Ein Kind wird mit relativ harmlosen Problemen nicht fertig und hat niemanden, mit dem 's reden kann", illustriert Naber die Notwendigkeit der Kinder-Hotline. Selbst die Frage „Wie lange darf ein Jugendlicher abends ausbleiben?" wird oft nicht familienintern gelöst.

Obwohl selbst studierte Juristin, reagiert die Jugendanwältin auch in

diesen Fällen nicht mit starrem Paragraphenwissen. „Mocht's kan Auf-stond', favorisiert Naber Gespräch statt Gesetz. Die Jugendanwältin als Vermittlerin.

Auch Nicole, 17, hat Probleme mit den Eltern, konkret mit dem Herrn Papa. Denn die Mutter ist vor fünf Jahren gestorben. Seither schupft Nicole den Haushalt, kümmert sich auch um den kleinen Bruder. Nebenbei macht sie eine Lehre. Abends möchte sie manchmal mit ihrem Freund weggehen. „Was fällt dir ein?" bekommt sie vom 40jährigen Vater zu hören. Selbst noch immer solo unterwegs, fürchtet er um die bewährte Haushälterin. Seine Frau würde er ja auch nicht ausgehen las-

sen. Die Bundesjugendanwältin findet schließlich eine Lösung: Eine Verwandte lädt den Vater jetzt einmal pro Woche zum Abendessen ein. Und Nicole hat einen freien Abend.

Fast zwei Drittel der Anrufe bei der Kinder- und Jugendanwältin kommen aber von Erwachsenen. Besuchs- und Sorgerecht sowie Unterhaltsfragen beschäftigen diese oft anonymen Anrufer. Stichwort Tren-nungs- und Scheidungswaisen. „Was für menschliche Tragödien dahinterstecken", staunt manchmal sogar Henriette Naber. Die Bundesjugendanwältin als Schadensbegrenzerin.

„Jetzt ist die Luft wieder rein", verkündet Lucia, die Anruferin von vorhin. Frau Naber erfährt nun, daß der alkoholkranke Vater es auch auf Lucias zwölfjährige Schwester abgesehen hat. Recherchen bei Verwandten bestätigen: Gefahr im Verzug. Noch am selben Tag werden die Mädchen provisorisch in einem Internat untergebracht.

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