Jeder Mensch ist ersetzlich. Ja? Wer hat denn nur diese Sprüche erfunden, die in ihrer Formulie- rung - Motto kurz und gut - so schlagend sind, daß man nicht wagt, an ihrer Richtigkeit zu zweifeln.
Jeder Mensch ist ersetzlich? Natürlich. Oder haben Sie schon einmal erlebt, daß „es" nicht wei- tergegangen wäre, nur weil ein Mensch von uns gegangen ist?
„Le roi est mort, vive le roi!" schallt?s durch die Jahrhunder- te. Man tut gut daran, solche Sprüche einmal zu überdenken. Zu überfühlen.
Wie war denn das, als die El- tern tödlich verunglückten? Als das fremde Kind vor unserem Haus von einem Lastwagen über- fahren wurde? Als die Schul- freundin - Freundin vom ersten Schultag über vier Jahrzehnte - jahrelang dahinsiechte, bis sie endlich sterben konnte? Als der Freund beim Baden ertrank? Wie wird das sein...?
Ging etwa deshalb die Welt aus den Fugen? Sie drehte sich weiter. Und wir taten, was wir bei allen Toden anderer tun: wir lebten weiter. Aber wir erlebten: Keiner ist ersetzlich. Auch wenn die Plätze wieder besetzt wur- den, auch wenn neue Freunde in unser Leben traten. Alles ging weiter. Aber anders.
„O dieser Schlag, wie geht er durch das Weltall / wenn unver- sehens eine Tür ins Schloß fällt..." Rilke.
Die Wunden schließen sich(„die Zeit" heilt sie) und vernarben. Nur bei Wetterwechsel schmer- zen sie noch. Und die Leerstellen bleiben Leerstellen.
Vor Jahrzehnten, als der Kreis der Freunde noch dicht geschlos- sen war, zündeten wir für jeden, der uns verließ, jeden Morgen eine Kerze an. Mit den Jahrzehnten wäre es ein morgendliches Lich- termeer, das wir entzünden müßten.
Jetzt brennt eine Kerze für alle, die uns vorausgegangen sind - je- den Morgen. Und jeden Morgen brennt sich uns die Wahrheit ein, daß kein Mensch ersetzlich ist.
Alles geht weiter. Alles wird auch ohne uns einmal weiterge- hen. Aber anders.
